Leben mit Kindern

Warum „Mom Shaming“ uns gerade jetzt krank macht

29. September 2020

Mamas sind wie Rockstars. Sie machen die ganze Nacht durch, ihre Fans krabbeln nachts zu ihnen ins Bett und sie werden, sobald sie erscheinen, mit lautem Geschrei empfangen – auch wenn die Nägel brüchig, das Gesicht zwei Augenringe tiefer oder die Stimmung im Keller ist: »The Show must go on«. Rund um die Uhr, 24/7. Mütter sind die wahren Superheldinnen dieser Welt und stehen immer im Rampenlicht. Nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für den Rest der Welt. Und weil Helden nicht nur Freunde haben, werden Mütter häufig zur Zielscheibe für Mom Shaming.

„Gut gemeinte Meinungen“ – gerne ungefragt und frei Haus

Sobald die Superheldin oder ihre Kinder etwas tun, das dem Mainstream widerstrebt, bildet das den idealen Nährboden für negative Kommentare, herablassende Blicke, unsachliche Meinungsäußerungen, Besserwisserei oder tobendes Mit-dem-erhobenen-Finger-Zeigen.

Ob sich eine Mutter »nur« für ihre Mutterschaft entscheidet, Familie und Beruf unter einen Hut bekommt, ihre Kinder stillt oder eben nicht, sie per Kaiserschnitt zur Welt bringt oder sich für eine Hausgeburt entscheidet, Impfungen durchführt oder nicht – ob sie ihre Kinder allein großzieht oder in der Patchworkfamilie lebt, Fotos ihrer Kinder auf Instagram postet oder sich aus den sozialen Medien zurücknimmt, ihre Kinder die Regelschule oder ein alternatives System besuchen – immer läuft sie Gefahr, für jede ihrer Entscheidungen infrage gestellt zu werden oder sich zumindest rechtfertigen zu müssen.

Auf der einen Seite gibt es Diskussionen mit der eigenen Mutter oder der Schwiegermutter, auf der anderen mit einer Social-Media-Freundin, dem Arbeitskollegen oder sogar mit wildfremden Menschen auf der Parkbank. »Sie wissen schon, dass in dem Müsli, mit dem Sie gerade Ihr Baby füttern, Plastikteile enthalten sind und Sie dadurch seinen Magen zerstören? Wie kann man in so einer Zeit noch Kinder in die Welt setzen?«, sagte ein Unbe-kannter am Bahnhof zu mir, als ich gerade dabei war, guten Gewissens mein Kleinkind zu füttern.

Die Wahrheit ist: Mom Shaming passiert schnell, meist unbedacht, aber auch offenkundig. Es kommt von Menschen, die wir lieben, aber auch von jenen, die wir nicht einmal kennen. Meist “gut gemeint”. Viele Mütter stört es nicht einmal, bei anderen führt es zunehmend großer Verunsicherung, Selbstzweifeln, Ängsten, Stress und Schlaflosigkeit – bis hin zu Burn Out und Depressionen. Als Trauma-Familien- und Bindungstherapeutin stelle ich fest, dass die Zahlen jener Mütter, die mit vorübergehenden depressiven Phasen in meine Praxis kommen, Alarm schlagen. Immer mehr Mütter wenden sich an mich, um mir mitzuteilen: “Ich kann nicht mehr!” Immer seltener stecken bei genauer Nachfrage die Kinder, der Job oder die Partnerschaft dahinter, sondern vielmehr die zahlreichen Feedbackgeber, die die mütterlichen Fähigkeiten hinterfragen.

Social Media als Nährboden für Momshaming

Bedenklich sind seit geraumer Zeit die Auswirkungen der Social-Media-Mom-Shaming-Attacken, zu finden in allen möglichen Müttergruppen. Kaum eine Mama wagt es noch, ohne kurze Schweißattacke Fragen nach Impfungen, Stillen, Kaiserschnitt oder Hausgeburt zu stellen. Immerhin könnte uns jetzt (anders als in den Zeiten vor Facebook, WhatsApp und Co) eine ganze Schar an Mitmüttern, die es in der Regel “gut gemeint, aber eben auch schnell mal “besser” wissen, antworten.

Gepaart mit der romantisierten Insta-Star-Mütterwelt, die dem Rest der Mama-Welt durch gefilterte Fotos und Videos Tag ein, Tag aus, suggerieren: “Schau nur, ich sehe blendend aus, bin immer top gestylt, meine Kinder sind glücklich und bekommen das Beste von allem.”

Niemand hat das Recht, eine Mutter ungefragt aufgrund ihrer Entscheidungen zu belehren, zu beschämen, zu diffamieren, zu hinterfragen oder herabzuwürdigen. Denn Mom Shaming hinterlässt oftmals verheerende Spuren, die

nicht einfach so wieder aus dem mütterlichen Herzen zu entfernen sind. Für viele Mütter ist es zur alltäglichen Gewohnheit geworden und sie haben einfach auf “Durchzug” geschaltet. Andere, wenige, gehören auch zu den Glücklichen, denen das noch nie passiert ist.

Untersuchungen zeigen, dass Mütter, sobald sie dauerhaft unter Stress stehen, weil sie sich für ihre Entscheidungen permanent rechtfertigen müssen, deutlich häufiger an Burn Out, Depressionen, Schlafstörungen oder Stress leiden als Mütter, die ein wohlwollendes Umfeld an ihrer Seite haben. Das Tabu-Thema Mom Shaming zeigt alarmierende Auswirkungen und sollte deshalb gesellschaftlich mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Wann wehren wir uns eigentlich?

Von Müttern wird einfach erwartet, dass sie wissen, wie “es” geht: das mit der Kindererziehung. Und natürlich: Arbeit und Erziehung unter einen Hut zu bringen. Ja, irgendwie klappt das schon auch alles, die Natur ist schließlich nicht doof und hat so etwas wie die “intuitive mütterliche Kompetenz” eingerichtet. Dennoch leben wir im 21. Jahrhundert, in dem es auch unfassbar viel zum Thema Mutterschaft im World Wide Web zu finden gibt. Vor diesem Hintergrund erscheint es noch schwieriger, den unterschiedlichen Ansprüchen „da draußen“ gerecht zu werden – geschweige denn, neben Milchpumpe, Babygeschrei, Dammnaht und Impfberatung die eigene Meinung oder gar Mama-Mitte zu finden.

Den Lockdown, den die Welt im März erlebt hat, kennen viele Mütter aus der ersten Zeit mit ihrem Baby. Insbesondere wenn sie Mehrfach-Mama sind oder ihre Kinder mit drei Wochen Dauerinfekt darniederliegen, sodass kein Babysitter zu finden ist. In diesen Zeiten ist Mama im Dauereinsatz zu Hause gefordert. Von Restaurant-, Kino-, Konzert- oder Vernissage-Besuchen kann Frau in diesen Phasen nur träumen. Der “Mama-Lockdown” kann eine gefühlte Ewigkeit dauern. Es wird allerhöchste Zeit, dass die Welt Kommentare wie: “Was, du gehst nicht arbeiten und bist nur bei den Kindern? Du hast es ja gut, so wenig zu tun!” von der vorgefertigten Meinungsliste über Mütter streicht!

Auswege aus der „Mom-Shaming“-Falle

In der Rolle einer Mutter lassen sich weder Schwächen verbergen noch Stärken aufplustern. Es gibt keine Bedienungsanleitung, die für jede gleich funktioniert. Muttersein ist so individuell wie der Daumenabdruck. Und unsere Achillesferse! Logisch, immerhin geht es um die Beziehung, die den meisten Müttern am wertvollsten ist: die zu den Kindern.

Obgleich wir Mütter weltweit so gut miteinander vernetzt sind und uns auch dadurch immer mehr weiterbilden, so verunsichert sind wir, wenn wir feststellen, dass wir in Wahrheit keinen Plan haben, wie wir die Mutterrolle wirklich gut meistern können.

Die Rolle der Mutter im 21. Jahrhundert ist gefärbt von Schubladendenken und Schwarz-Weiß-Dogmen, die zum Teil schon längst überholt sind. Denn eine Frau, die in ihrem Beruf als selbstbewusste Expertin und Top-Mitarbeiterin gilt, kann sich zeitgleich in der Rolle als Mutter unsicher und überfordert fühlen!

Mein Dank gilt an dieser Stelle all jenen, die eine Mama einfach mal milde anlächeln, wenn der kleine Schatz wieder mal im Supermarkt schreiend am Boden mit den Fäusten das Überraschungsei, das er eigentlich nicht haben durfte, zerquetscht …

“Miteinander statt Gegeneinander” kann als Zeichen der Solidarität schon so vieles bewirken, dazu braucht es nichts Großartiges.

Das Gefährliche an Mom Shaming ist, dass wir übereinander urteilen, ohne zu wissen, was im Leben der betroffenen Mama vor sich geht oder was sie in ihrer Kindheit und ihrem bisherigen Leben erlebt hat.

Das Buch “Stop Mom Shaming” appelliert an mehr Solidarität, Empathie und gegenseitiges Wohlwollen. Es zeigt effektive Wege auf, um wieder mehr Selbstvertrauen in die eigene mütterliche Kompetenz aufzubauen und hilft Mama dabei, Momshaming geschickt entgegenzuwirken. Auf der Plattform www.stopmomshaming.com finden Mütter unter anderem auch kostenlosen Rat bei Mom Shaming.

Die Autorin Katharina Pommer ist selbst Mutter von fünf Kindern, seit 17 Jahren Familien-  und Bindungstherapeutin und Inhaberin von zwei Unternehmen.

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