Leben mit Kindern

Schuleltern am Rande des Nervenzusammenbruchs: Interview mit Mutter und Autorin Anke Willers

29. Oktober 2019

Gerade wer von uns Kinder in der weiterführenden Schule hat, kennt das, dieser ewige Stress mit Hausaufgaben, Üben und diese unterschwellige Panik. Unbeschwerte Kindheit wünscht man seinen Kindern und nachmittags gibt es dann täglich Frust zwischen If-Sätzen und binomischen Formeln. Manch eine Mutter (oder Vater, wenn der nachmittags zu Hause ist) kommt sich vor wie der unbezahlte und nicht ganz so qualifizierte Hilfslehrer. Man darf auch nicht vergessen, dass nicht alle Familien so ein Konstrukt leben können. Ganz im Gegenteil: Diese Art des Schulsystems (mit Eltern, die ihre Kids zum Abi coachen) ist meiner Meinung nach in höchstem Masse sozial unverträglich und zementiert noch soziale Unterschiede. Da kann man schon echt Frust schieben. Heute spreche ich mit der „Eltern“-Kolumnistin über „Gymnasialwahn“,  Eltern als Hilfslehrer und warum wir die Schulnoten unserer Kinder als Beweis für unsere gute oder schlechte Erziehungsleistung sehen.

Sie hat das herzerfrischende Buch „Gehts Dir gut oder hast Du Kinder in der Schule? “ geschrieben. [amazon_link asins=’345360511X‘ template=’ProductAd‘ store=’fraumu-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’63031cf1-07d0-49bc-b0cf-444c7b0feb89′] (affiliate link)

War früher wirklich alles einfacher in Sachen Schule?

Woran liegt es, dass uns die eigene Schulzeit in der Rückschau so viel einfacher vorkommt? Haben es unsere Eltern besser gemacht?

Ja, stimmt – in der Rückschau lief es auch bei mir viel glatter als bei meinen Kindern. Deshalb war ich überhaupt nicht vorbereitet auf die Schulprobleme, die meine Mädchen jahrelang hatten. Aber mal abgesehen davon, dass man in der Rückschau ja gerne ein bisschen verklärt, nach dem Motto: Früher war auch mehr Lametta – ich glaube, wir finden heute eine ganz andere Situation vor als unsere Eltern. Früher haben Eltern weniger geholfen und es wurde auch weniger erwartet, dass sie helfen. Gleichzeitig war der Gymnasialwahn noch nicht so ausgeprägt. Das lag unter anderem daran, dass unsere Eltern oft selber kein Abitur hatten. Meine auch nicht: Ich komme von einem niedersächsischen Bauernhof. 

Durch verschiedene Bildungsreformen in den 70er Jahren ist das Schulsystem dann durchlässiger geworden. Und viele von uns haben bessere Abschlüsse machen können als die Eltern. Dann kam Ende der Neunziger der Pisa-Schock. Deutsche Kinder, so erfuhren wir, lernen nicht genug. Da nahm der Schuldruck zu und viele Eltern haben begonnen, sich als Hilfslehrer zu engagieren – und auszugleichen, was in der Schule nicht geschafft wurde. Das war gleichzeitig auch eine Abgrenzungsbewegung nach unten gegenüber weniger bildungsaffinen Schichten.

Die Schule hat sich dann an diese Hilfslehrerdienste gewöhnt und Eltern sind immer mehr in Zugzwang geraten.

Schuleltern heute= gestresste Hilfslehrer

Warum ist es so schwer, sich von der allgemeinen Schulpanik loszumachen? Wie hast Du das persönlich geschafft?

Ich glaube, es ist ganz wichtig, erst mal zu kapieren, was genau dahinter steckt. Einerseits ist da natürlich der Wunsch, dass die Kinder später gute Chancen haben in unserer Leistungsgesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Man möchte, dass sie mithalten können. Und muss Dampf machen. Andererseits wollen wir alle natürlich auch, dass unsere Kinder eine schöne Kindheit haben und möglichst lange spielen können. Das ist ein Konflikt, aus dem man schwer rauskommt.

Der zweite Aspekt, der da eine Rolle spielt, ist die unterschwellige Auffassung, dass die Noten unserer Kinder irgendwie auch unsere Erziehungsleistung bewerten: Wenn Kinder in der Schule gut laufen, haben wir alles richtig gemacht. Läuft es nicht, ist das wie eine Klatsche für unsere Erziehungsbemühungen. Dann weiß jeder, woran das liegt: zu viel gearbeitet, für zu wenig Struktur gesorgt, nachmittags den Handykonsum nicht geregelt …, in der Erziehung was falsch gemacht.

Für mich war es wichtig, diesen Zusammenhang zu verstehen – und mich innerlich davon zu distanzieren. Natürlich bin ich als Mutter und als Vater dafür zuständig, mich um meine Kinder zu kümmern, ihnen was beizubringen. Aber es ist nicht mein Job, zu Hause Referate mitzuschreiben oder die Vektorrechnung zu erklären.  Meine Kinder waren beide keine Selbstläufer und nicht auf dem Gymnasium. Natürlich hatte auch ich oft Panik, dass sie nicht mithalten können, wenn ich nicht permanent helfe. Dagegen haben mir zum Teil Gespräche geholfen – vor allem mit Eltern von älteren Kindern, die ganz ehrlich gesagt haben: Bei uns lief das auch nicht rund, aber es gibt ganz viele Wege zu einem ordentlichen Schulabschluss. Bei uns ist das dann soundso weitergegangen. Und siehst du, es ist nie zu spät….

Das kann man übrigens auch auf Klassentreffen beobachten: Die Leute, die heute erfolgreich sind, sind nicht unbedingt die, die früher super in der Schule waren oder da straight durchmarschiert sind, oder?

„Machen Sie keinen Druck, aber üben Sie Seite 15-99 zu Hause“

Was ist Deiner Meinung nach das Hauptproblem an unserem deutschen Schulsystem- oder an den 16, die es ja gibt?

Es gibt ja eigentlich gar nicht das deutsche Schulsystem: Wir haben eine föderale Bildungsstruktur: 16 Systeme mit ganz unterschiedlichen Niveaus. Das ist schon mal ziemlich ungerecht und auch gar nicht zeitgemäß in einer Jobwelt, die Eltern gerne mal zum Umzug zwingt.

In Bayern, wo meine Töchter zur Schule gegangen sind, ist auch problematisch, dass sehr früh sehr viel Druck aufgebaut wird. Das hängt vor allem mit dem dreigliedrigen Schulsystem und dem sogenannten Übertritt zusammen, also der Übergang zur weiterführenden Schule nach der 4. Klasse. In Bayern können Eltern dabei nicht mitreden – es kommt allein auf die Noten an. Und deshalb geht es schon in der 3. Klasse los mit der Aufregung: nach Möglichkeit sollte das Kind in keinem Hauptfach schlechter als 2 sein, sonst klappt es nicht mit dem Gymnasium. Und alle anderen Schulen gelten als Loserschulen – zumindest in einer Großstadt wie München.

Von der Schule, und das fand ich auch immer schwierig, kamen da sehr ambivalente Botschaften. Wir wurden einerseits von der ersten Klasse an explizit aufgefordert, mit den Kindern zu üben und in den Zeugnissen stand auch regelmäßig, was zu Hause noch vertieft werden muss. Ich habe auch viele Lehrerfreunde, die geben zu: Wenn die Kinder zu Hause keine Unterstützung haben, dann schaffen die allermeisten das nicht auf der weiterführenden Schule. Wir sollen also ausgleichen, was die Schule nicht schafft, auch, weil sie schlecht ausgestattet ist. Andererseits sollen wir uns aber nicht einmischen und natürlich keinen Druck machen. Dabei wird der Druck ja vor allem auch von einem System erzeugt, das sehr früh auf Selektion setzt.

Ganz schwierig finde ich auch, dass die Hilfslehrerkultur bei uns dazu beiträgt, dass der Schulerfolg eines Kindes in unserem Land besonders stark vom Elternhaus abhängt: Wer Eltern hat, die helfen und Ressourcen haben (Zeit, Geld, Bildung), ist klar im Vorteil gegenüber denen, die das nicht haben. Unser Schulsystem gleicht soziale Ungerechtigkeiten nicht nur nicht aus, sondern vertieft sie sogar – das wird ja auch immer wieder kritisiert zum Beispiel von der OECD.

Stichwort Hilfslehrerin: Warum muss das immer die Mutter sein und was hat dieser unfreiwillige „Beruf“ mit unserer noch immer nicht gleichberechtigten Gesellschaft zu tun?

Ja, das war ein interessantes Aha-Erlebnis bei der Recherche: Unsere Schulkultur zementiert traditionelle Rollenbilder. Denn es ist doch so: Viele Mütter arbeiten nach der Geburt erst mal  Teilzeit. Diese Teilzeitphase verlängert sich dann oft über viele Jahre, wenn die Kinder in die Schule kommen: Wir reduzieren unsere Stunden vielleicht sogar noch weiter, um als Hilfscoach zur Verfügung zu stehen – und oft spüren wir in der Schule auch, dass das von uns erwartet wird. Mütter werden von Lehrern viel häufiger angesprochen als Väter. Das ist so eine alte Rollenzuschreibung, die immer noch in unseren Köpfen steckt: Für Kümmern ist hauptsächlich die Mutter zuständig, auch in Schulfragen.

Und wir Mütter ziehen uns diesen Schuh eben an, weil wir gute Mütter sein wollen. So geraten viele von uns beruflich aufs Abstellgleis. Ich habe eine sehr interessante Studie gefunden, die wurde vor einigen Jahren im Auftrag des Bundesfamilienministerium und der Konrad-Adenauer-Stiftung gemacht: Eltern-Lehrer-Schulerfolg. Dort stellen Eltern fest – Mütter wie auch Väter –, dass ausgerechnet der Bildungssektor, einst Ausgangspunkt der Gleichstellung, heute Motor des teiltraditionellen Rollenbildes ist: Das Bildungssystem, das in den 70ern und 80ern vielen Mädchen erstmals zu einer höheren Schulbildung verholfen hat, bremst sie aus, wenn sie 20 Jahre später Mütter werden. Dann nämlich werden sie auch Hilfslehrerinnen und können aus ihren beruflichen Qualifikationen nicht machen, was möglich wäre.

Wie man sich von der Schulpanik freimachen kann

„Lernst Du noch oder brüllst Du schon“ heißt ein Kapitel Deines Buches: Deine 3 ultimativen Tipps für entspanntes Lernen mit dem eigenen Kind, bitte!

Ja, ich geb’s zu: Das ständige Geprüfe in Bayern, Notenfrust und vor allem das gemeinsame Lernen haben unser Familienklima extrem belastet

Es hat Phasen gegeben, da habe ich mich wegen der Schule sogar mit meinem Mann gestritten. Und beim Lernen mit den Kindern gebrüllt. Das hat natürlich auch mit der emotionalen Nähe zu tun, die da ist, wenn Kinder und Eltern zusammen lernen. Daraus entstehen ungute Vibrations. Diese emotionale Anspannung – da kann man jeden Hirnforscher fragen – ist Gift fürs Lernen. Druck erzeugt eine Matschbirne, das spezifische Lernen funktioniert nicht mehr.

Schulfreie Zonen

Ganz wichtig finde ich, dass wir ganz bewusst auch schöne Sachen zusammen gemacht haben – also ohne diesen defizitären Blick, der sich in Lernsituationen ja schnell entwickelt. Vor Mahlzeiten haben wir uns verordnet, nicht über Schule zu reden. Wir hatten auch einen Bauwagen auf dem Land  – da gab es kein einziges Arbeitsblatt, schulfreie Zone sozusagen.

Das Kind machen lassen- und das dann aushalten

In der Mittelstufe habe ich irgendwann meinen Hilfslehrerjob „gekündigt“. Meine große Tochter wurde dann erst mal noch schlechter. Das auszuhalten, war für mich eine schwere Übung. Aber dann habe ich so eine innere gedankliche Freiheit entwickelt. Ich dachte: Was kann schlimmstenfalls passieren? Dass sie einmal durchfällt…. Eigentlich auch keine Katastrophe. Also gib ihr die Zeit. Tatsächlich ist sie dann nicht durchgefallen, hat aber gelernt, sich selbst zu organisieren. Und ich war froh, dass ich mich zurückgehalten hatte.

Fachkräftemangel und Arbeitnehmermarkt

Was mir übrigens auch geholfen hat, ist der Satz des Soziologen Heinz Bude, den ich auch in meinem Buch zitiere. Er sagt: Die Demografie rettet alle. Was er damit meint? Die Geburtenrate hat sich in den letzten 50 Jahren halbiert. Wenn die Babyboomer von einst demnächst in Rente gehen und nur halb so viele Kinder kommen nach, dann ist das eine große Chance – gerade auch für die, die kein Einserabitur in der Tasche haben.

Beide Deiner Töchter haben schon ihren Schulabschluss- welche Kritik haben sie rückblickend an Dich/Euch und worauf blicken sie beim Thema Schule gerne zurück?

Die Große hat Abitur auf Umwegen gemacht, die kleine Mittlere Reife.

Beide sagen heute: Mama, wir wünschten, Du wärst in all den Jahren gechillter in Schulsachen gewesen. Diese durchgelernten Wochenenden, die ständigen Prüfungen, der Frust, wenn die Noten schlecht waren: Ätzend! Auf der anderen Seite sagen sie aber auch: Mama, Papa ohne euch hätten wir das so nie geschafft.

Wenn ich selber jetzt zurückblicke, dann würde ich sagen: Das Wichtigste, was Eltern in solchen Schulkrisen leisten können, ist, den Kindern Vertrauen zu schenken und daran zu glauben, dass sie ihre Rille schon finden werden. Ich war da nicht immer gut – aber heute glaube ich, es ist das, was am Ende zählt. Für mich heute sehr schön zu sehen ist, dass wir uns trotz der vielen Schulkonflikte das Verhältnis zueinander nicht ruiniert haben. Wir sind irgendwie immer im Gespräch und im Kontakt geblieben. Auch in der Pubertät.

Darüber bin ich wahnsinnig froh!

Liebe Anke, herzlichen Dank für Dein Interview und viel Erfolg mit dem Buch!

Fotos: © bethelfath, Pixabay und privat

Frau Mutter folgen

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1 Kommentar

  • Reply Antje 29. Oktober 2019 at 10:11 am

    DankE!!! Genau diesen Artikel habe ich gerade gebraucht. Danke! Und Happy Birthday

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