Leben mit Kindern

Kindeswohl in Corona-Zeiten? Eine Jugendamt-Mitarbeiterin berichtet

26. November 2020

Neben all den Corona-Nachrichten um Infektionszahlen und fehlende Intensivbetten kommt mir ein Thema immer zu kurz: Das Kidneswohl. Das fängt schon bei der Bereuung und Schule an, aber besonders kritisch ist diese Zeit auch für sozial benachteiligte Kinder. Heute schreibt hier Doro, die auf dem Jugendamt arbeitet und alles aus nächster Nähe erlebt.

Kinder, Krise… und keiner bleibt zurück?

Wohl kaum. Zugegeben, meine Kinder werden sicherlich nicht diejenigen sein, die unter dem anhaltenden Pandemiewahnsinn nachhaltig leiden müssen. Wir sind in der glücklichen Lage, Homeoffice und Kinderbetreuung einigermaßen gut unter einen Hut bringen zu können, müssen uns nicht mit existenziellen Nöten und Geldsorgen auseinandersetzen und wenn wir uns in unseren vier Wänden zu sehr auf die Nerven gehen, können wir auf hilfreiche Strategien zur Wiederherstellung des Familienfriedens zurückgreifen. Kurzum, wir können unseren gelebten Familienalltag gut aufrechterhalten und, um auch einige der Klischees zu bedienen, die Familienbloggern nachhaltig anhaften, ich bin in der glücklichen Lage, mich angesichts der drohenden Weihnachtszeit gerade um solch belanglose Dinge wie Adventskalenderfüllungen, Weihnachtsdeko und Geschenkelogistik kümmern zu können.

Die von der Krise hart getroffen werden

Nein, diejenigen, die diese Pandemie wirklich hart trifft, sind andere. Und dennoch- oder gerade deswegen- beschäftigt mich die momentane Lage. Denn die Thematik ist für mich allgegenwärtig im beruflichen Kontext in meiner Arbeit im Jugendamt.

„Unser Problem ist nicht ein rasanter Anstieg an Kindeswohlgefährdungsmeldungen. Unser Problem ist langfristiger, deutlich vielschichtiger. Unser Problem ist, dass Corona persönliche Problemlagen intensiviert und negative Prozesse um einiges beschleunigt werden,“ erzählt mir meine Arbeitskollegin aus dem Sozialen Dienst- der Abteilung unseres Jugendamtes, in der Gefährdungseinschätzungen und Gespräche mit belasteten oder hochstrittigen Familien in mehr oder weniger krisenhaften Situationen ohnehin zum Alltag gehören.

Für mich hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn die Frage, wie gut oder wie schlecht unsere Kinder durch die Corona-Krise kommen, lässt sich wohl kaum mit statistischen Werten beantworten. Betrachten wir nur die Zahlen der Meldungen von Gefährdungssituationen von Kindern während des ersten Lockdowns im Frühjahr und Sommer, waren sie vergleichsweise niedrig- nicht nur in unserem Landkreis. Interpretieren wir diese Zahlen dann vor dem Hintergrund, dass durch die Schließung der Kindertageseinrichtungen und Schulen auch unverzichtbare Hilfe-, Kontroll- und vor allem Unterstützungsnetzwerke weitestgehend außer Kraft gesetzt wurden, gibt uns das wahrscheinlich eher zu denken.

Die Pandemie- eine weitere Hürde im System der Kinder- und Jugendhilfe

Die Nachwirkungen des ersten Lockdowns, die Einschränkungen des momentanen Teil-Lockdowns, Social Distancing und fehlende Freizeitangebote – alles das verlangt von uns einiges ab.

Ich sehe Kolleginnen und Kollegen, die trotz Homeoffice-Regelungen, trotz Einschränkungen der persönlichen Kontakte in Beratungssituationen ihr Bestes geben, um den Zugang zu den Klienten nicht zu verlieren- und um Hemmschwellen nicht größer werden zu lassen. Die Familien zu erreichen, die sowieso schon mit benachteiligenden Rahmenbedingungen zu kämpfen haben, stellt eine besondere Herausforderung dar- dazu braucht es nicht erst die pandemischen Einschränkungen. Dabei sind es meist eben genau die Familien, für die dieser Ausnahmenzustand, der schon längst kein Ausnahmezustand mehr ist, sondern neuer Familienalltag- ohne Freizeitausgleich und womöglich mit existentiellen und finanziellen Sorgen im Nacken, auf vielen Ebenen eine Katastrophe ist.

Kindeswohl- was heißt das in Corona-Zeiten?

Wenn wir von gesunder Entwicklung bei Kindern sprechen, meinen wir das körperliche, seelische und geistige Wohl jedes einzelnen Kindes. Soziale Beziehungen sind für ein gesundes Aufwachsen unerlässlich, Kinder benötigen einen Lebensraum, in dem sie ihre emotionalen, geistigen und personalen Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln können. Vor allem aber haben Kinder ein Recht darauf, frei von jeglicher körperlichen und seelischen Gewalt aufzuwachsen.

Der Gedanke, dass die Zahl an Neuinfektionen und Corona-positiv-Getesteten nach und nach wieder zu Schließungen von Schulen und Kitas führt und viele familiäre Situationen eventuell deutlich verschärft, weckt ein ungutes Bauchgefühl bei mir. In meinem Arbeitsfeld geht es hauptsächlich um „frühe Prävention“, also darum, Strategien zu entwickeln, die gesundes Aufwachsen und Chancengleichheit in der Lebens- und der Bildungswelt für jedes Kind gewährleisten. Die Pandemie fühlt sich hier wie eine Keule an, die uns zwischen die Beine geworfen wird, denn auch unsere Arbeit funktioniert nur mit Interaktion und Beziehungsaufbau.

Für uns heißt es jetzt mehr denn je, noch genauer hinzuschauen; einmal mehr ein Gefühl dafür entwickeln, was Kinder in dieser besonderen Zeit brauchen. Und das sind in erster Linie sicherlich einigermaßen ausgeglichene Eltern, der Kontakt zu Gleichaltrigen und ein Umfeld, in dem sie sich auch unter eingeschränkten Rahmenbedingungen frei entfalten und lernen können.

Natürlich ist es löblich- wenn auch längst überfällig-, dass die Bundesregierung Milliarden in die Digitalisierung der Schulen investiert. Irgendwie ist dieser Invest aber doch auch unerlässlich, wenn Präsenzunterricht mit E-Learning verbunden werden soll. Die Frage ist nur, was mit denjenigen passiert, deren Eltern sich keine teuren Endgeräte leisten können, oder aufgrund Sprachbarrieren schlicht und einfach beim Lernen zuhause nicht unterstützen können? Wem ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, wer in diesen Krisenzeiten das Nachsehen haben wird? Es sind die, die sowieso immer ein wenig mehr rudern müssen, um nicht zurückzubleiben.  Die Kinder- und Jugendlichen, die in armen bzw. sozial benachteiligten Familien aufwachsen.

Wie kann man helfen?

Die wirklich einfache Devise lautet „Augen und Ohren offen zu halten“. Oftmals kann schon ein vertrauensvolles Gespräch, können ein paar Momente, in denen sich jemand außerhalb des eigenen Familiensystems Zeit nimmt, helfen, oder weitere Türen öffnen.

Seid Ihr gerade mitten in Euren Weihnachtsvorbereitungen? – Vielleicht habt Ihr ja schon an der Wunschbaumaktion Eurer Stadt mitgemacht- oder schnürt gerade noch ein Paket für „Weihnachten im Schuhkarton“? Es gibt so viele kleine Gesten, die uns nicht wehtun und Anderen umso mehr helfen.

Angesichts Corona haben viele Kommunen und Landkreise unterschiedliche Unterstützungspakete geschnürt. Eine Vielzahl von Telefonhotlines wurde zusätzlich ins Leben gerufen. Die Jugendämter bieten neben Beratungsangeboten etliche Dienstleistungsangebote.

Aber letztendlich ist es doch so: Unterstützung kann nur ankommen, wenn sie abgefragt wird. Wenn sie für jeden zugänglich ist. Hierfür braucht es Vernetzung, ob in der Nachbarschaft, im Bekannten- und Freundeskreis, oder in der Schul- und Kindergartencommunity – und eben ein bisschen Engagement. Ein bisschen mehr Wir-Denken. Das müsste uns doch eigentlich leichtfallen- es geht schließlich um das Wohl unserer Kinder.

Die Autorin:

Hallo, ich bin Doro, 37 Jahre, Mama von zwei größtenteils bezaubernden Kindern und in freudiger Erwartung unseres jüngsten Familienankömmlings. Ich bin außerdem Ehefrau meines Lieblingsmenschen und Bonusmama von zwei mittlerweile (im wahrsten Sinne) richtig großen Teens. Doro schreibt auf ihrem Blog Glitzerklebermafia über ihr Familienleben. Schaut doch mal vorbei!

Noch arbeite ich – und zwar als Pädagogin im Jugendamt. Seit 10 Jahren mache ich diesen Job – Beratung, Begleitung, Koordination. Ob als Sozialarbeiterin im Sozialen Dienst, als Amtsvormund oder als Präventionsbeauftragte- es ist aufregend, aufreibend und das Beste: Man lernt nie aus…. Vor allem aber habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass zwischen der beruflichen Passion und dem realen Familienalltag oftmals Welten liegen – und nicht selten ein Berg voller Emotionen, die nur die eigene Familie aus einem herauskitzeln kann…“

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