Das freie Spielen hat sich in den letzten Jahren ausgespielt. Es steht im Verdacht, dass es einfach nur Spaß macht und es ansonsten keinen weiteren sinnvollen Nutzen hat. Insbesondere die Umgestaltung des Elementarbereichs der letzten fünfzehn Jahre macht deutlich, welchen Stellenwert das freie Spielen heute hat – nämlich kaum einen mehr. Ein Plädoyer einer Pädagogin, warum das Spielen für Kinder so wichtig ist, und weshalb vor allem pädagogische Einrichtungen wieder mehr Raum hierfür schaffen müssen.
Meine Freundin erzählte mir neulich wie ein ganz normaler Tag in der Kita für ihr Kind aussieht. Täglich stehen sogenannte Bildungsangebote auf dem Programm und ihr Sohn fragte sie eines Abends: „Mama, wann darf ich im Kindergarten einfach nur mit meinen Freunden spielen? Immer muss ich irgendwas machen.“
Und es stimmt. Kinder hetzen bereits im Elementarbereich von einem Bildungsangebot in das nächste. Unterrichtsähnliche Module werden für die Kleinen entwickelt und als Frühe Bildung angepriesen. Denn nicht nur Schulen haben Bildungspläne, sondern auch Kitas müssen sich mittlerweile mit einer Art von Bildungsplan auseinandersetzen. Lernen und Bildung – statt Spielen und Freude – ist heute die Devise. Ja, die Zeiten scheinen wieder härter zu werden. Mit der (frühen) Bildung habe ich mich in diesem Artikel (Link zum ersten Artikel) näher befasst.
Einfach nur freies Spiel vs. gesellschaftlicher Druck
Ich kann die Ängste der heutigen Elterngeneration nachempfinden. Wer sein Kind liebt, der möchte natürlich, dass es ihm*ihr in der Zukunft gut geht. Dass er*sie gesellschaftlich gut integriert ist, einen höheren Bildungsabschluss absolviert sowie einen Beruf ausüben wird, der den späteren Lebensunterhalt sichert. Daran gibt es nichts auszusetzen, diese Motive sind gut gemeint und Ausdruck von Liebe und Verantwortungsgefühlen. Zum ersten Mal seit etwa 200 Jahren glauben Eltern heute, dass es ihren Kindern später einmal nicht besser gehen wird, als ihnen selbst. Der Druck, der auf Eltern lastet, ist enorm groß.
Der Bildungsauftrag
Auch pädagogische Fachkräfte stehen unter einem massiven politischen und gesellschaftlichen Druck. Ich selbst habe vor meinem Studium eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert und ein paar Jahre in einer Kita gearbeitet und kenne daher das Innenleben solcher Einrichtungen sehr gut. Und ich weiß genau, welchen Druck Erzieher*innen tagtäglich aushalten müssen – mit den Eltern, mit dem Träger oder mit den Vorgesetzten. Kontinuierlich sind pädagogische Fachkräfte dabei Rechenschaft abzulegen, was und wie Kinder in ihren Einrichtungen lernen. Bildungs- und Lerngeschichten werden verfasst, um nach außen zu präsentieren, dass sie ihren Bildungsauftrag ernst nehmen. Dass sie eben keine Spielstätte sind, sondern eine ernst zu nehmende Institution.
Bereits in meinem ersten Artikel habe ich darauf hingewiesen, dass Bildung eine elementare Bedeutung hat und sie jedem Menschen zusteht. Aber ich erachte es für durchaus fraglich, wenn Kinder im Vorschulalter kaum mehr Zeit zum Spielen haben, weil sie von einem in das nächste Bildungsangebot geschickt werden. Weil Pädagogen*innen – aufgrund des gesellschaftlichen und politischen Drucks (!) – Kinder nicht mehr frei spielen lassen. Weil sie Angst haben, den Erwartungen der Eltern, des Trägers oder der Politik nicht gerecht zu werden.
Ich frage mich: Wo bleibt das freie Spielen heute? Wo bekommen Kinder aktuell noch einen Raum um einfach zu sein und sich treiben zu lassen? Und sind Kindergärten heute noch Orte, an denen Kinder sich ihrem eigenen Spiel widmen können und dürfen?
Freies Spielen ist ein zentrales Bedürfnis
Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster betrachtet die Entwicklung des Elementarbereichs der letzten Jahre mit einem kritischen Blick und beobachtet unter anderem, dass das kindliche Spiel in eine unerwünschte Ecke gestellt wird:
„(…) wenn man den hektischen Umbau der Elementarpädagogik der 2000er Jahre Revue passieren lässt, dann klingeln einem die kritischen Töne gegen das Kinderspiel ziemlich schrill in den Ohren.“
Die Botschaft des Kinderarztes ist klar: Wir brauchen nicht noch mehr Förder- und Bildungsprogrammen in Krippe und Kita, sondern vielmehr Beziehungs- und Bindungsangebote. Kinder brauchen Rahmenbedingungen, um sich selbst organisieren zu können und sie brauchen Möglichkeiten zum freien Spielen.
Wir klammern uns oftmals an dem Glauben fest, dass das Spielen maximaler Zeitvertreib ist und dass es höchstens nur Spaß macht, mehr jedoch dabei nicht rum kommt. Das scheint ganz klar zu sein, denn spielende Kinder lachen und zeigen sich ausgelassen – ein eindeutiges Merkmal für lustorientiertes Vorgehen. Solche Verhaltensweisen, die dem Lustprinzip folgen, werden in unserer westlichen Gesellschaft negativ bewertet. Daher, so die überwiegende Annahme einiger Menschen (selbst von Pädagogen*innen), dürfe diese Verhaltensweise nicht, beziehungsweise nur wenig, unterstützt werden.
Und die Lösung scheint gefunden zu sein. Weniger spielen, mehr lernen. Und zwar von Anfang an. Doch diese scheinbar gute Lösung ist sehr fatal, weil wir auf diese Weise Kindern etwas wegnehmen, das für sie von höchst elementarer Bedeutung ist. Kinder machen beim freien Spielen viele wichtige Erfahrungen, die sie eben nur durch das Spielen machen können.
Und wer sagt denn, dass sich freies spielen und lernen grundsätzlich ausschließen?
Das freie Spiel ist für kleine Kinder elementar
„Aus entwicklungspsychologischer Sicht scheint das selbst gestaltete Spiel dem Kind insbesondere zwei Grunderfahrungen zu ermöglichen: die Erfahrung von Stimmigkeit sowie lustvolles- und gleichzeitig höchst effektives – Lernen, Kribbel-Lernen nämlich.“ (Herbert Renz-Polster)
Der Neurobiologe Gerald Hüther macht auf die Prozesse im Gehirn aufmerksam, die beim freien Spielen ablaufen.
„Botenstoffe, die das Spielen freisetzt (…) haben einen wachstumsstimulierenden Effekt auf die neuronale Vernetzung. Dadurch bauen sich bestehende Netzwerke weiter aus. Das passiert allerdings nur durch das Spielen, nicht durch Belehrung und Fördermassnahmen.“
Lasst uns umdenken
Das bedeutet also, dass uns sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die Neurobiologie Erkenntnisse darüber liefern, welche Prozesse im Gehirn durch das Spielen entstehen und dass diese die dem Lernen sehr ähnlich sind.
Freies Spielen ist also lernen – das ist eine wichtige Botschaft! Das kindliche Spielen braucht dringend wieder mehr Raum, mehr Platz und vor allem muss der negative Ruf unbedingt korrigiert werden. Eine gesunde kindliche Entwicklung ist nur dann zu gewährleisten, wenn Kinder das tun dürfen, was ihren natürlichen Bedürfnissen entspricht. Das Spielen gehört in jedem Fall dazu – es ist ein primäres Bedürfnis.
Für Kinder ist spielen durchaus eine ernsthafte Sache. Da geht es nicht in erster Linie darum lustorientierte oder hedonistische Bedürfnisse zu stillen, nein, da geht es um so viel mehr. Im Spiel sammeln und verarbeiten Kinder ihre Erfahrungen ie sie täglich neu machen. Sie lernen (da haben wir die Bildung schon wieder) mit ihren Gefühlen umzugehen, sie lernen sich in andere Menschen hineinzuversetzen oder sie lernen auch über sich hinauszuwachsen. Und sie machen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, eine grundlegende Erfahrung, die ein positives Selbstbild stärkt.
Kindern das Spielen zu nehmen, das Spielen einzuschränken oder das Spielen zu unterdrücken darf nicht die Lösung sein, wenn es darum geht Bildung in den Fokus zu rücken. Im kindlichen Spiel finden nämlich so viele Bildungsprozesse– und Anreize statt, dass sich jegliche vorgefertigten Bildungsmodule tatsächlich warm anziehen können.
Lasst die Kinder spielen! Und lasst sie vor allem frei spielen! Lasst Kindertagesstätten zu Orten werden, die das kindliche Spielen willkommen heißen und es ernst nehmen. Ja, Bildung ist wichtig – Spielen aber noch so viel mehr.
Über die Autorin:
Sandra Siehl, Sozialpädagogin (B.A.), SAFE-Mentorin (PD Karl Heinz Brisch), Ausbildung in systemischer Kinder- und Jugendlichentherapie, aktuell im Aufbaustudium Erziehungswissenschaft (M.A.) und in der Familienberatung tätig. Interessiert sich neben den entwicklungspsychologischen Themen auch für folgende Bereiche: Armut, soziale Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus, soziale Bewegungen, Feminismus oder Geschlechterforschung (Gender Studies). Mehr Texte sind auf ihrem Blog “Die kritische Schreibwerkstatt mit Herz” zu finden.
Fotos: Privat und pixabay
3 Kommentare
Ich finde das auch das Sozialleben der Kinder dadurch sehr eingeschränkt ist, weil die Freunde jeden Tag irgendwelche Vereine haben. Da ist überhaupt keine Zeit mehr sich einfach spontan mal nach der Schule zu verabreden und einfach mal zu quatschen oder zusammen „abzuhängen“. Die meisten Freunde meiner Kinder sind in 4 verschiedenen Vereinen und am Wochenende dann noch Turniere. Da bleibt kaum Zeit, nur mal sporadischer Kontakt über WhatsApp. Ich finde Vereine auch wichtig, aber reichen nicht 2. Ich habe die Vereine so ausgewählt, dass sie erst ab 18 Uhr sind. So ist nachmittags noch Zeit für andere Dinge.
Ja, das hast Du echt Recht. Verabredungen sind darüber hinaus dann auch noch eine extra Aufgabe für Mütter geworden! LG Nina