Leben mit Kindern

Corona-Kids:“Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Fokus behalten“

22. September 2021

Wir Erwachsene spüren die Folgen der Pandemie deutlich. Auch wenn wir „gut durchgekommen sind“ ohne größere Verluste, merken wir doch, dass die seelische Gesundheit hier und da angekratzt ist. Wir können das reflektieren, darüber sprechen, uns Hilfe holen. Wie sieht es bei Kindern aus? Kleine Kinder können seelische Nöte noch überhaupt nicht artikulieren und Teenager ziehen sich vielleicht noch mehr zurück. Es ist mir ein großes Anliegen, dass wir jetzt die seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund rücken.  Heute spreche ich mit der Neurowissenschaftlerin Dr. Nicole Strüber darüber, was wir tun können, um die mentale Gesundheit unserer Kinder nach der Pandemie zu schützen.

Dr. Strüber hat das gerade das Buch „Corona-Kids: Was wir jetzt tun müssen, um unsere Kinder vor den seelischen Folgen der Pandemie zu schützen“ vorgelegt. Ich kann es euch wirklich empfehlen.

Corona-Kids: Was andauernder Stress der Eltern mit Kindern macht

Thema Stresshormone im Gehirn. Was passiert, wenn wir Eltern gestresst sind, was hat das mit „Autobahnen“ zu tun und was ist bei kleinen Kindern zu beachten?

Wenn wir Eltern gestresst sind, dann reagiert unser Gehirn mit der Ausschüttung von Stresshormonen auf den Stress. Es geht dabei nicht nur um all die aufgeladenen Situationen, in denen wir – kurz vorm Platzen – kaum umhinkommen, die Stresshormonflut zu bemerken, sondern auch um unseren Alltag in stressigen Zeiten. Stresshormone wiederum machen uns weniger feinfühlig. Uns gelingt es weniger gut, einfühlsam und verständnisvoll auf unsere Kinder einzugehen. Das brauchen Kinder aber, gerade die kleinen.

Sie brauchen es vor allem dann, wenn sie selbst gestresst sind, denn sie können ihre Gefühle noch nicht selbst regulieren. Wenn sie wütend oder ängstlich sind, dann brauchen sie unsere feinfühlige Unterstützung, um wieder runterzukommen. Geschieht dies regelmäßig, dann werden im Gehirn des Kindes die Nervenzellpfade, die für diese Regulation von Gefühlen zuständig sind, zu stabilen“ Autobahnen“ ausgebaut – die Voraussetzung dafür, dass Kinder später sehr gut selbst ihre Gefühle regulieren können. Und das ist ungemein wichtig für ihr psychisches Wohlbefinden, aber auch für ihre schulischen Erfolge.

Ein Lehrer meines Sohnes hat auf dem Elternabend erklärt: Für uns Erwachsene war die Zeit anstrengend und belastend, aber Jugendliche haben viel mehr verpasst, weil in anderthalb Jahren viel mehr im Leben eines Jugendlichen passiert. Was sagen Sie dazu?

So wahr. Jugendliche lösen sich von den Eltern ab, auch dann, wenn sie eine gute Beziehung zu ihnen haben. Sie entwickeln eigene Ansichten, Überzeugungen. Die Eltern sind nun nicht mehr in gleichem Maße ihr Halt, ihr Anker. Den suchen sie naturgemäß bei Gleichaltrigen. Und dieses Zusammensein mit Gleichaltrigen hat ihnen während der Pandemie sehr gefehlt, sie hätten es gebraucht, um in ihrer Ablösung aufgefangen zu werden und um anhand der Reaktionen anderer ihre Überzeugungen auf Haltbarkeit hin zu testen.

Kinder und Jugendliche konnten keine sozialen Erfahrungen machen

Inwieweit sind soziale Kontakte gerade bei Kindern und Jugendlichen wichtig?

Soziales Miteinander ist nicht etwas, das wir einfach schön finden, so wie wir gerne einen Kuchen essen. Das Miteinander mit anderen ist etwas, das zum Menschsein essentiell dazu gehört. Und gerade während der Kindheit und der Jugend muss sehr viel über diese soziale Welt gelernt werden. Kinder und Jugendliche müssen lernen, die Gefühle und die Perspektiven anderer zu erkennen und zu respektieren, sie müssen lernen, zu kooperieren, Kompromisse zu schließen. Das hört sich banal an, ist aber hochkomplex. Und für dieses Lernen braucht man natürlich soziale Erfahrungen.

Stichwort Lernen: das Homeschooling lief für viele nicht optimal, es gibt Wissenslücken. Wie lernen Kinder jetzt am besten? Müssen wir nicht wirklich mal über unsere Lehrpläne oder so Dinge wie G8 nachdenken?

Das wäre sinnvoll. G8 war schon vor der Pandemie ein Konstrukt, das mit den Bedürfnissen der Kinder herzlich wenig zu tun hatte. Die Lehrpläne werden voller und voller, Kinder zu Durchlauferhitzern, durch die das Wissen hindurchfließt ohne hängenbleiben zu können. Kinder, die gerade in einer Zeit, in der dieses Wissen eigentlich überall frei verfügbar ist statt lange in Bibliotheken gesucht werden zu müssen, es eben nicht lernen, dieses Wissen und Informationen zu reflektieren, zu bewerten, kritisch zu durchdenken. Dafür fehlt die Zeit.

Nun, in Zeiten der Pandemie, haben die Kinder einiges an Lernstoff verpasst. Aber Lücken hatten sie schon immer, auch vor der Pandemie. Weil sie vielleicht mal eine Zeit lang unaufmerksam waren, krank waren, Stunden ausfielen, oder schlicht, weil sie den durchgenommenen Stoff nach einem halben Jahr wieder völlig vergessen hatten. Die Lehrenden mussten sich auch vor der Pandemie an diese individuellen Wissenslücken anpassen, die wichtigen unter ihnen erkennen und ausfüllen. Das wird ihnen auch jetzt gelingen. Wenn der Druck nicht noch zunimmt und ihnen ausreichend Freiheit in der Gestaltung von Unterricht und Prüfungen zugestanden wird.

Sie erwähnen in Ihrem Buch eine Studie der OECD: Die Schulschließungen hatten, uns wundert das nicht, erheblichen negativen Einfluss auf ältere Kinder und Jugendliche. Was ist hier Ihr Appell für den Herbst?

Präsenz wann immer dies unter Pandemiebedingungen möglich ist – Kinder lernen einfach nachhaltiger, wenn sie einen Menschen vor sich haben, dessen Mimik und Gestik sehen, wenn sie Blickkontakt haben. Und wenn Online-Unterricht unvermeidbar ist, dann muss dieser unbedingt interaktiv gestaltet sein. Angeschaltete Kameras, Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden, Gruppenarbeiten in digitalen Räumen – all das muss das digitale Lernen ein wenig lebendiger gestalten, dann kann auch etwas hängenbleiben.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass viele Jugendliche still leiden. Wie bleibt man im Kontakt mit den Teenies und was kann man konkret tun, damit sie sich öffnen?

Verständnis und Gemeinsamkeit. Verständnis für ihren Rückzug (Abnabelung gehört dazu), Verständnis für ihre ausufernde Beschäftigung mit den sozialen Medien (besser als nix), Verständnis für ihre schlechte Laune (der Lebensmittelpunkt – das Zusammensein mit den Gleichaltrigen – fehlt). Verständnis bedeutet nicht, dass all das gut ist, natürlich sollten wir versuchen, sie aus dem Rückzug und der social media Versenkung zurückzuholen, ihnen Gemeinsamkeit anbieten, gemeinsame Aktivitäten, die ihnen Spaß machen könnten, aber wir sollten nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen im Unverständnis über ihren Rückzug.

 Die seelische Gesundheit vieler Eltern ist auch durch die Pandemie angegriffen. Wie können wir unseren Kindern helfen und für sie da sein, wenn es uns selbst nicht gut geht? 

Wir müssen unsere eigene seelische Gesundheit wirklich im Fokus behalten, die Dinge tun, die uns gut tun. Freunde treffen, Sport treiben, rausgehen. Und uns immer wieder deutlich machen, dass die Pandemie eine besondere Zeit ist, in der eben nicht alles so funktionieren kann wie vorher. In der es nicht so wichtig ist, ob der Garten hundertprozentig gepflegt ist, das Auto blitzt und die Schwiegereltern von Menü und Sauberkeit beeindruckt sind. Für unsere Kinder ist wichtig, dass unsere Feinfühligkeit erhalten bleibt, und diese erfordert, dass es uns gut geht.

Über Dr. Nicole Strüber

Nicole Strüber ist Neurowissenschaftlerin und Mutter von Zwillingen. Sie promovierte 2012 über die Bedeutung früher Erfahrungen für die Hirnentwicklung und war anschließend einige Jahre am Institut für Hirnforschung in Bremen beschäftigt. Gemeinsam mit Prof. Roth veröffentlichte sie 2014 das Sachbuch „Wie das Gehirn die Seele macht“. Im Jahr 2016 folgte das erste eigene Buch: „Erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen“, im Jahr 2019 dann das Buch „Risiko Kindheit. Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern“. Am 15.09.2021 erschien nun „Coronakids. Was wir jetzt tun müssen, um unsere Kinder vor den seelischen Folgen der Pandemie zu schützen“.

Nicole Strüber ist derzeit als Hochschullehrerin im Studiengang Hebamme DUAL an der hochschule21 in Buxtehude beschäftigt und ist außerdem als Wissenschaftsautorin und im Rahmen von Vorträgen und Seminaren freiberuflich tätig.

Fotos: Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, Elisa Meyer

 

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