Meine Tochter war gerade mal vier Jahre alt und hatte bereits drei wichtige Menschen in ihrem Leben verloren. Innerhalb von knapp zwei Jahren sind ihre Oma, ihre Uroma und ihr Uropa gestorben. Wir haben sie zu keiner Beerdigung mitgenommen – eine Entscheidung, die ich heute bereue. Sollte man Kinder auf eine Beerdigung mitnehmen oder kann man einen Abschied auch anders gestalten?
Krankheit und Tod waren in diesen beiden Jahren greifbar und nah in unserer Familie. Meine Großeltern starben, beide über 90. In diesem Alter muss man mit dem Tod rechnen. Und doch lässt man Menschen gehen, die vom Anbeginn des eigenen Lebens da waren. Urgesteine der Familie. Vertraute. Ein Stück gemeinsame DNA.
Ist eine Beerdigung zu viel für (kleine) Kinder?
Meine Tochter kann sich heute kaum noch an ihre Urgroßeltern erinnern. Doch ihr Tod war für sie als damals Zwei- bis Dreijährige verwirrend. Nicht greifbar. Auch, wenn es ihnen schon länger vor ihrem Tod immer schlechter ging. Sie waren aus Kindersicht wie vom Erdboden verschluckt.
Und genau deshalb würde ich die Entscheidung, mein Kind nicht mit zur Beerdigung zu nehmen, heute anders treffen. Um meiner Tochter, so klein sie auch gewesen sein mag, eine Chance auf einen Abschied zu geben. Und das Recht, bei dem offiziellen Abschied, der Beerdigung, dabei zu sein.
Kinder fühlen sich schnell ausgeschlossen
Der Verein TrauBe aus Köln bietet seit zehn Jahren Trauerbegleitung und Beratung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an. Manuel Schweichler, einer der beiden Pädagogischen Leiter des Vereins, sagt: “Kinder bekommen viel mit. Sie merken, dass die Erwachsenen sich anders verhalten, sich schick machen und weggehen. Aber ich darf nicht mit.” Das sei für das Kind oft ein Gefühl von Zurücksetzung und rege eher dazu an, Phantasien oder Alpträume zu entwickeln, als wenn man mit seinem Kind offen über das Thema spreche und es teilhaben lasse.
Wir – mein Mann und ich – wollten unsere Tochter damals schützen. Wir dachten, sie sei noch zu klein. Sie verstehe das alles noch nicht. Wir fanden, eine Beerdigung sei zu verstörend für kleine Kinder.
Die Fragen meiner Tochter zum Tod wurden immer konkreter
Ich denke heute, dass es meiner Tochter gut getan hätte, dabei gewesen zu sein. Insbesondere auf der Trauerfeier ihrer Oma, die zwar länger krank war, aber doch recht überraschend gestorben ist. Da war mein Kind vier Jahre alt und hatte tausend Fragen. In den ersten Tagen, aber auch Wochen und Monaten nach der Beerdigung waren wir oft beim Grab auf dem Friedhof. Und von Mal zu Mal wurden ihre Fragen konkreter.
Wir haben ihr – vorsichtig und von Kinderbüchern zum Thema begleitet – erklärt, was auf einer Beerdigung passiert. Was ein Friedhof ist und ein Sarg. Mir blieb manchmal die Spucke weg, wenn meine Tochter – bevorzugt abends vor dem Schlafengehen – plötzlich alles über den körperlichen Zustand ihrer toten Oma wissen wollte. Mama, hat Oma auch Hunger unter der Erde? Ist sie kalt oder warm? Hat sie was an? Atmet sie noch? Wer hat sie da vergraben?
Ich versuchte, all ihre Fragen kindgerecht zu beantworten. Manuel Schweichler vom Kölner Trauerverein sagt: “Die bedrohlichen Bilder existieren eher in den Köpfen der Erwachsenen.” Er hat einen Tipp für Eltern: “Man muss nicht immer sofort ins Detail gehen. Man kann auch die Kinder fragen, was sie denken, was bei einer Beerdigung passiert und darüber dann ins Gespräch kommen.” Kinder sind kreativ und haben oft eine ganz andere Herangehensweise an das Thema.
Auch Kinder brauchen Orte des Abschieds
Der Tod und das für ein Kleinkind plötzliche Verschwinden wichtiger Bezugspersonen wäre viel greifbarer gewesen, wenn unsere Tochter die Zeremonie des Abschieds hätte miterleben dürfen. Auch Kinder brauchen Raum zum Trauern. Und Orte des Abschieds. Rituale. Gemeinschaft.
Die drei Beerdigungen waren schön. Klingt makaber? Nein, finde ich nicht. Sie waren wirklich schön. Festlich. Würdevoll. Es wurde geweint und gelacht. Wie tröstend wäre es vielleicht für mein Kind gewesen, von dieser Stimmung getragen zu werden.
Andere vertraute Menschen aus der Familie zu sehen, die gemeinsam weinen. Und danach zusammen stehen und lachen, weil sie witzige Erinnerungen teilen. Wie schön war das gemeinsame Singen in der Andacht vor der Beisetzung. Ich liebe Kirchenmusik und habe diese Liebe offenbar an meine Tochter weitergegeben. Von guten Mächten wunderbar geborgen. Ich habe diese Zeile aus Dietrich Bonhoeffers Gebet glaube ich auf allen drei Beerdigungen gesungen und kaum ein anderes Lied ist für mich ein besserer Trostspender.
Es gab auf allen drei Trauerfeiern nichts Bedrohliches. Unsere Tochter wäre dort in den besten Händen gewesen. Behütet und getröstet wunderbar. Wie es Dietrich Bonhoeffer in seinem Text beschreibt.
Mit Kindern unverkrampft über den Tod sprechen und selbst trauern
Ein Kind ist kein Erwachsener, klar. Man könnte auch sagen, dass eine Beerdigung (kleine) Kinder überfordern kann. Aber übertragen auf meine eigene Trauer sage ich: mir hat Offenheit geholfen. Offen über den Tod zu sprechen. Zu trauern. Meine Gefühle nicht zu verbergen. Zu singen. Und mit Menschen zusammen zu sein, die den oder die Verstorbene ebenfalls gut kannten. Mir hat es sogar geholfen, meine Großeltern, meine Schwiegermutter und vor vielen Jahren meinen Vater nochmal zu sehen. Beim Bestatter oder in der Leichenhalle.
Das Thema Tod auf eine bodenständige Ebene holen
Es hat mich jedes Mal Überwindung gekostet, den Raum mit dem offenen Sarg zu betreten. Aber ich hatte den starken Wunsch, die Toten ein letztes Mal zu sehen. Und mit jedem Besuch schwanden meine Berührungsängste. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe immer ihre Hand genommen. Und trotz der Kälte ihre Lebenswärme gespürt. Die Auseinandersetzung mit der Endgültigkeit des Todes hat mir geholfen, den Verlust anzunehmen und Trauer in gute Erinnerungen zu verwandeln.
Heike Brüggemann, ebenfalls Pädagogische Leiterin des Kölner Vereins TrauBe, sagt: “Wenn Erwachsene den Verstorbenen bei einer Aufbahrung berühren, dann werden Kinder das auch können. Dann spricht man eben darüber, dass Oma keine Ohrringe mehr trägt. Und überlegt sich, ob man ihr noch welche mitbringen kann.” Oder streicht gemeinsam über die vertrauten Haare. Die Diplom-Sozialarbeiterin und Psychologische Beraterin plädiert dafür, das Thema auf eine bodenständige Ebene zu holen. Und ihr Kollege Manuel Schweichler, der auch als Systemischer Coach arbeitet, ergänzt: “Kinder brauchen Informationen und wollen in Geschehnisse einbezogen werden.”
Ich vergleiche. Die Puzzleteile meiner eigenen Trauer und meines so umfassenden Abschieds von geliebten Menschen. Mit den großen Fragezeichen, die sich durch die Todesfälle für meine kleine Tochter aufgetan haben müssen. Ein zeremonieller Abschied hätte meiner Tochter geholfen, den für ein Kind unfassbaren Tod und den Akt des begraben werdens besser zu verstehen.
Der Friedhof als Treffpunkt für die Familie
Ich glaube, wir haben unsere Tochter auch ohne Teilnahme an den Beerdigungen in dieser Zeit gut aufgefangen. Wir haben viel erzählt. Vom Leben der Verstorbenen. Und ihrem Tod. Wir haben den Friedhof zu einem Treffpunkt der Familie werden lassen. Waren – vor allem am Anfang – oft gemeinsam dort, haben der Oma die neuesten Geschichten aus dem Leben unserer Kinder erzählt.
Meine Töchter (mittlerweile ist meine Tochter große Schwester) haben Spielzeug mitgenommen und neben der Grabstelle mit Barbies gespielt. Sie haben die Friedhofsgießkannen mit Wasser gefüllt und die Blumen gegossen. Haben verstecken gespielt (okay, ein paar Mal musste ich sie zurückpfeifen, weil sie den Friedhof allzu arg mit
einem Spielplatz verwechselt haben). Aber es war uns wichtig, diesen Ort für sie so normal und trotzdem andächtig und besonders wie möglich zu gestalten.
Tipps vom Kölner Verein TrauBe zur Trauerarbeit mit Kindern
- – Man kann Kindern sagen, dass den Verstorbenen nichts mehr passieren kann. Dass sie in Sicherheit sind. Das kann Kindern selber ein Gefühl von Sicherheit geben.
- – Wenn Kinder mit zu einer Beerdigung kommen, ist es gut, jemanden dabei zu haben, der vielleicht nicht unmittelbar von der Trauer und dem Verlust betroffen ist. Das kann eine Freundin oder ein Freund der Familie sein, eine Tante oder ein Babysitter. Einfach jemand, der als Backup da ist und das Kind bei Bedarf aus der Situation holen kann. Mit ihm spielen geht oder einen Spaziergang auf dem Friedhof macht.
- – Kinder können mit einbezogen werden, indem sie zum Beispiel ein Bild für den Verstorbenen malen, das sie zur Beerdigung mitnehmen dürfen.
- – Man sollte nicht versuchen, seine eigene Trauer vor dem Kind zu verbergen. Heike Brüggemann: “Man kann sagen: Papa weint, weil Oma tot ist. Kinder spüren, was in der Familie los ist, sehen die verweinten Augen oder merken, wenn sich die Eltern zurückziehen.”
- – Kinder können durch ihre Neugier und Unvoreingenommenheit die oft angespannte Atmosphäre einer Trauerfeier auflockern und somit eine Art Ventil für die Trauer der Erwachsenen sein. Auch, wenn sie vermeintliche Grenzen überschreiten, neben dem Sarg mit den Blumen spielen oder zwischendurch lautstark auf sich aufmerksam machen.
Buchtipps zum Thema Kinder und Beerdigung:
- Geht Sterben wieder vorbei? Mechthild Schroeter-Rupieper. Gabriel Verlag.
- Abschied, Tod und Trauer (RavensburgerReihe: Wieso-Weshalb-Warum)
- Die besten Beerdigungen der Welt. Ulf Nilsson. Moritz Verlag.
- Du wirst immer bei mir sein. Inger Hermann. Verlag Sauerländer.Ganz viele Informationen sowie weitere Literaturtipps rund um das Thema Trauerbegleitung für Kinder und Jugendliche findet man unter
https://www.traube-koeln.de
Text: Maren Best
1 Kommentar
Guten Morgen Maren
Danke für Deinen berührenden Bericht Es ist sehr wichtig für Kinder das sie sich auf ihre Weise verabschieden können. Das habe ich selbst erlebt als meine damals 3 jährige Tochter mich nach dem Tot meiner Schwiegermutter fragte:
“ Sag mal Mama wie haben die schwarzen Leute Oma in den Blumentopf gefaltet? “
Meine Kinder sind aufgrund meiner Krankengeschichte bei meinem Ex Mann aufgewachsen ich war lange Zeit Wochenend Mama und hatte einen schlechten Kontakt zu meinem Ex Mann damals.
Also überraschte mich die Frage gelinde gesagt sehr denn wir saßen ganz normal am Frühstückstisch am Sonntag früh. Ich wusste von dem Tot meiner Schwiegermutter nichts und meine Kinder machten auch keinen komischen oder extrem traurigen Eindruck.
Wir haben dann überlegt wie wir für Oma bei mir in der Wohnung eine Erinnerungsecke gestalten können. Was die Kinder brauchen um sich zu erinnern und bei ihr zu sein. Ja sie war lange krank und bettlägerig aber eben ein Teil des Alltags der Kinder.
Ich finde es wichtig das Kinder auf ihre Weise Abschied nehmen können und ja es ist richtig sie gehen damit anders um als wir. Meine Erfahrung auch als Erzieherin ist das Jungs und Mädchen nur danach fragen was sie wissen möchten und gut verarbeiten können.
Wir als Erwachsene haben die Chance von unseren Kindern einen ehrlicheren Umgang mit dem Tot zu lernen denn das gehört ja auch zum Leben dazu.
Viele Grüße
Karin