Familienalltag mit Humor

Autismus, allein erziehen und ein halbes Herz

1. März 2016

Autismus und alleinerziehend sein- manche Frauen haben große Pakete zu schultern. Pakete, die manch andere in die Knie zwingen würden. Heute erzählt uns Marcella von ihrem Alltag als Alleinerziehende mit einem autistischen Kind. Immer am Erschöpfungslimit zwischen Arbeit, Arztterminen und dem ganz normalen Leben, aber mit einer bewundernswerten Lebenskunst ausgestattet. Hut ab vor Marcella und ihrem Sohn Evan!

Lebenskunst: Autismus und ein halbes Herz

Ausgiebig ausgeruht wache ich nach einem 8 Stunden Tiefschlaf auf und erfreue mich des Tages. Lache dem Tag gut gelaunt entgegen. Sehe aus wie das blühende Leben. So stelle ich mir mein Aufwachen morgens vor. In der Realität kann ich kaum meine Augen öffnen. Ausgiebige Nachtruhe? Pustekuchen! Wenn ich Pech habe, hat Evan mich um 2 Uhr nachts das erste Mal aus dem Schlaf gerissen und wir schlafen gegen 5 Uhr wieder ein, trotz unseres tollen Therapiebettes. Wenn ich mich aus dem Bett gequält habe, den Blick in den Spiegel vermeide ich morgens vehement,fängt unser Alltag an: Mich anziehen, Evan wecken & fertig machen.

Evan wird gegen 07:00 von dem Bus der Lebenshilfe abgeholt. Danach schnell zur Arbeit fahren, immer die Zeit im Nacken, da ich pünktlich bei der Arbeit ankommen muss. Ansonsten schaffe ich meine Stunden nicht. Nach 5 Stunden bei der Arbeit, fahre ich schnell los, um wieder pünktlich zu Hause zu sein. Ein erneuter Blick auf die Uhr: 5 Minuten hänge ich meinem Zeitplan nach. Der Bus mit Evan steht schon vor der Tür und wartet – und das schon zum 2. Mal diese Woche! Oh nein, es tut mir leid. Schnell Evan aus dem Bus holen und dann in die Wohnung. Mittlerweile ist es 14:40. Jetzt haben wir noch knapp 20 Minuten und dann müssen wir schon wieder los. Wechselweise zur Autismus-, Ergo- oder Reittherapie.

„Pustekuchen“ oder alleinerziehend sein mit autistischem Kind

Dazu kommen noch die regelmäßigen Arzt- und Kardiologentermine.  Evan lebt nur mit einem halben Herzen. Sein Herz wurde in mehreren Operationen so „umgebaut“, dass die rechte Herzhälfte die Aufgaben der fehlenden Linken übernimmt. Sein Herzfehler heißt HLHS (Hypoplastisches Linksherzsyndrom). Wir sind dann meistens gegen 18 – 18:30 Uhr wieder zu Hause. Spätestens dann empfängt mich ein gut aussehender liebevoller und gepflegter Mann an der Tür, der mir Evan freudestrahlend abnimmt und uns ein frisches und leckeres Abendessen serviert. Nachdem er Evan ins Bett gebracht hat, erhalte ich noch eine sorgfältige Rücken- und Nackenmassage. Pustekuchen!

Leider empfängt uns weder ein gut aussehender Mann an der Tür noch erhalte ich eine ausgedehnte Massage am Abend. Realität: Nachdem ich schnell unser Abendbrot vorbereitet habe, meistens nicht frisch – und ich Evans “zu Bett gehen“ Abendritual absolviere, welches sich an schlechten Tagen bis zu 3 Stunden in die Länge ziehen kann, habe ich noch 1 bis 2 Stunden für mich. Mit der Gewissheit morgen bzw. in der Nacht fängt das Ganze wieder von vorne an. Und täglich grüßt das Murmeltier…

„Oh, das tut mir leid, Autismus und allein erziehen. Euch muss es aber schlecht gehen.“
„Wissen Sie was? Das braucht es gar nicht! Uns geht es gut. An manchen Tagen sogar sehr gut. Evan und ich lieben unser Leben, denn das Leben ist schön!“

Nach einer langen Zeit totaler Erschöpfung und immer kurz vor oder kurz über meiner Belastungsgrenze habe ich mir irgendwann eingestanden, dass ich es nicht ohne Hilfe schaffe. Ich habe mittlerweile ein tolles Netzwerk aus liebevollen Helferinnen (zu denen auch Evans Großeltern gehören), die uns ein bis zwei Mal die Woche rührend unterstützten. Dadurch habe ich die Möglichkeit ein paar Auszeiten für mich zu nutzen. Ich zelebriere meinen Einkauf durch den Supermarkt so wie andere Frauen einen gemütlichen Einkaufsbummel in der Stadt. Meine Inseln des Alltags. Egal ob im Supermarkt oder auf dem Spielplatz mit einer Freundin und unseren Kindern, dazu eine Portion Sushi und einen alkoholfreien Dosensekt. Evan und ich fahren oft zu den entlegensten Spielplätzen, die auch gerne eine Stunde entfernt sein können. Das lohnt sich doch gar nicht. Das ist viel zu weit! Das sind einige der Reaktionen, die wir auf unsere Ausflüge ernten. Das lohnt sich nicht, gibt es in meinem und Evans Wortschatz nicht mehr. Es tut uns gut, also lohnt es sich! Immer.

Happy End, trotz Autismus

Natürlich gibt es auch diese anderen Tage. Die Tage, an denen ich mich frage: Wo bleibt mein Happy End heute? Es gibt Tage, an denen fällt es mir schwer, das Gute in allen zu sehen. Trotz der gründlichsten Suche kann ich es nicht finden. Früher war ich der Meinung, dass ich ein Anrecht darauf habe, jeden Tag glücklich zu sein. Heutzutage weiß ich, dass diese Ansicht vermessen ist. Ich habe gelernt einen schlechten Tag einfach anzunehmen und mich auf den nächsten zu freuen, der kommt immer!

Und mein persönliches Happy End für diesen und jeden weiteren Tag: egal wie kräftezehrend unser Tag auch gewesen sein mag, wenn ich abends in Evans Zimmer gehe und ihn beobachte, wie friedlich er schläft, bin ich unendlich dankbar, dass es ihm gut geht. Evan ist mein Happy End.  Jeden Tag aufs Neue!

Und die Moral von der Geschichte: die schlechten Tage, machen die Guten besser.

Ist Marcella nicht eine unglaublich starke Frau? Hut ab! Sie schreibt übrigens über ihre Erfahrungen als Alleinerziehende mit einem autistischen Kind den Blog Anders und doch normal, schaut doch mal bei ihr vorbei.

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