Leben mit Kindern

Fragiles X Syndrom: Einschränkungen im Leben und wie ich als Mutter damit lebe

4. Juni 2019

Fragiles X Syndrom: Das bedeutet viele Einschränkungen im Leben. Für das betroffene Kind natürlich, aber auch für die Eltern. Wir modernen Mütter sind alle gestresst und reden von Achtsamkeit und Selbstliebe. Wie elementar wichtig muss das für eine Mutter sein, die eine große Belastung im Leben zu schultern hat. Heute erzählt uns die wunderbare Stefanie Vey davon, wie wichtig diese extra Portion Egoismus für uns Mütter ist – 
gerade für den Alltag mit einem „besonderen“ Kind. Ein Text, der mir wirklich die Augen geöffnet hat. Man kann von Stefanie viel lernen, was Achtsamkeit und gesunder Egoismus wirklich bedeutet und wie wichtig er für Mütter ist, für uns alle. 

Diagnose Fragiles X Syndrom: Ich entscheide mich bewusst für Zuversicht

Als wir im November 2015 für unseren Sohn die Diagnose „Fragiles X-Syndrom“ bekamen, stand für einen Moment die Zeit still. Wie im Zeitraffer rauschten Bilder und Vorstellungen an meinem inneren Auge vorbei. Wie das wohl alles werden würde… Mit unserem Sohn. Mit uns. Als Familie. Auch als Ehepaar. Was bedeutet das alles für unsere Zukunft? Starke Entwicklungsverzögerung. Geistige Behinderung. Verhaltensauffälligkeiten. Meine Vorstellungskraft reichte gar nicht aus, um mir „diese“ Zukunft in fünf, zehn oder zwanzig Jahren auszumalen, nur um mich schonmal innerlich darauf vorzubereiten.

Und ich denke, es war auch besser so. Stattdessen: ZUVERSICHT. Das war MEIN Motto. „Das wird schon alles werden. Da wachsen wir schon rein.“ Unser Fips war gerade mal anderthalb Jahre alt– für mich quasi noch ein Baby, und ich wollte diese Zeit einfach genießen. Ich wollte noch nicht an die Zukunft denken. Zumindest nicht an die ferne Zukunft. Vielleicht an morgen, an nächste Woche, maximal nächstes Jahr. Alles andere würde schon noch früh genug kommen. Und so war es auch.

Ein Leben mit der Krankheit beginnt- für uns alle

Natürlich veränderte sich der Familienalltag mit der Diagnose fragiles X Syndrom und den daraus resultierenden Einschränkungen  grundlegend. Neben der emotionalen Belastung brachte sie vor allem erstmal eins: Gewissheit. Endlich eine Erklärung für die Auffälligkeiten, die wir schon seit einiger Zeit bei unserem Sohn festgestellt hatten. Aber die Diagnose brachte auch viele neue Aufgaben mit sich. Arzttermine, Therapien, Entscheidungen bzgl. Medikamenten, Papierkram… Viele neue Dinge, die irgendwann einfach für uns dazugehörten. 
Die regelmäßigen Termine zur Physiotherapie und zur Logopädie wurden fester Bestandteil unseres Alltags. Und ich mochte diese Termine, denn es war schön zu sehen, was unser Fips hier alles lernte, wie er sich weiterentwickelte – ganz langsam, in seinem eigenen Tempo. Alles eine Frage der Übung, der Geduld. Jede Woche aufs Neue. In kleinen Schritten ging es vorwärts.

Ich bin täglich an meinen Grenzen…und kann nicht mehr!

Doch irgendwann wurde der Alltag immer anstrengender. Mir fiel es immer schwerer, die Zeit mit unserem Sohn zu genießen. Denn neben seiner starken Entwicklungsverzögerung kamen zunehmend Verhaltensauffälligkeiten zum Vorschein. Mittlerweile ist unser Fips viereinhalb, und sein Verhalten bringt mich immer wieder an meine körperlichen und emotionalen Grenzen. Wenn er mal wieder nicht laufen will – das kleine Stück von der Haustür bis zum Auto; oder einfach nur mal raus in den Garten. Solche Übergangssituationen überfordern ihn schon. Oder wenn er beim Essen stopft und schlingt – bis zum Erbrechen.

Wenn er so oft kein Interesse am Spielen zeigt, sondern ständig nur Fernsehen möchte. Oder sein Fläschchen. Oder den Schnuller. Oder alles auf einmal. Wenn ich versuche mit ihm zu sprechen, er aber überhaupt nicht „anwesend“ ist. Dann habe ich oft das Gefühl durchzudrehen oder an allem zu zerbrechen. 
In solchen Situationen habe ich mich schon oft gefragt: Kann man denn nichts dagegen tun?! Während er mit Physiotherapie und viel Übung irgendwann das Laufen lernte und mit der Logo ins Sprechen kam, scheint es für diese alltäglichen Herausforderungen irgendwie keine Therapie zu geben. Das Leben mit dem fragilen X Syndrom bedeutet Einschränkungen überall.

Fragiles X Syndrom: Die vergebliche Suche nach immer neuen Therapien

Immer wieder habe ich nach einem Strohhalm gesucht, um sein „auffälliges“ Verhalten irgendwie in den Griff zu bekommen. Autismus-Therapie, Verhaltenstherapie, Ernährungsumstellung, Medikamente… Was gibt es denn noch? Ich wollte mich an jeder noch so kleinen Chance, jeder Idee festhalten, um unseren Alltag besser bewältigen zu können. Am Ende haben wir nichts von alledem umgesetzt. Mit gutem Grund. Denn ich wusste es vermutlich selbst, wollte es aber nicht wahrhaben:
Ich kann mein Kind nicht ändern. Ich muss an mir selbst arbeiten! Nicht an meinem Kind.

Eine bittere Erkenntnis- und ein Neuanfang für mich

Klar, das ist natürlich unbequem, weil es wieder „Arbeit“ für mich bedeutet. Doch nur so kann es gelingen. Ich kann mein Kind nicht „gesund therapieren“. Ich kann ihm lediglich dabei helfen, mit bestimmten Therapien oder Behandlungen sein Leben einfacher zu gestalten: So hat er laufen gelernt, damit er seine Umgebung erkunden kann. Er hat sprechen gelernt, damit er sich mitteilen kann. Und seit kurzem machen wir Ergotherapie – sogar mit Therapiehund! Eine wunderbare Sache, die ihm auch wieder viele neue Türen öffnen wird.

Doch seine Wesenszüge kann ich nicht ändern. Weder ich noch ein Therapeut noch sonst irgendwer. Und das will ich auch gar nicht. Dann wäre er nicht mehr UNSER Fips. Das zu erkennen und auch zu akzeptieren, war und ist nicht leicht. Aber ich allein habe es in der Hand, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen, die mich belasten, die mich überfordern oder die mir meine Energie rauben. Ich kann Lösungswege suchen, mit denen ich es in Zukunft besser aushalten kann.

Was ich wirklich weiss: Nur ich kann mich ändern!

Jetzt bin ich dran! Zeit für eine Portion Egoismus!

Nachdem ich das erkannt hatte, wurde mir auch relativ schnell klar, welches Problem noch dahintersteckt. Es liegt doch auf der Hand: Je mehr Energie ich habe, je besser es mir geht, umso besser kann ich auch den anstrengenden Alltag bewältigen. Vielleicht muss ich ihn dann auch nicht mehr „bewältigen“, sondern kann ihn irgendwann wieder genießen. Es geht also plötzlich um mich selbst. Es liegt an meinen eigenen Energiereserven, wie gut ich mit den tagtäglichen Problemen zurechtkomme. An meinem Wohlbefinden, meiner inneren Ausgeglichenheit und meiner Zufriedenheit. Und: Ich bin selbst dafür verantwortlich, dafür zu sorgen, dass es mir gut geht! Ich allein, und niemand sonst. Ja, es ist sogar meine Pflicht, für mich zu sorgen!

Gesunder Egoismus eine Pflicht von pflegenden Angehörigen- und für alle Mütter

Klingt erstmal gewöhnungsbedürftig. Aber es funktioniert. Geholfen hat mir dabei ganz besonders die enge Abstimmung mit meiner Mentorin Birgit Brauburger, die mich sowohl beruflich als auch privat über einen gewissen Zeitraum hinweg begleitet hat. Sie hat mir gezeigt, wie ich endlich MEINEN Weg finden kann – wie ich das Leben führen kann, das mir guttut. Das Ergebnis ist grandios: Ich habe – zunächst beruflich – meinen Weg gefunden und bin dadurch endlich auch bei mir selbst angekommen. Ich habe erkannt, dass mir das Schreiben hilft, die Situation besser zu ertragen. Daraus ist mein eigener Blog „liebenswert-anders.de“ entstanden.

Auch wenn ich als freie Texterin ohnehin viel Zeit mit dem Schreiben verbringe: Für das „persönliche“ Schreiben für meinen Blog nehme ich mir jetzt regelmäßig Zeit. Es ist MEINE Zeit. Genauso wie meine Aerobic-Stunde einmal in der Woche. Und durch meine Arbeit im Homeoffice habe ich die Freiheit, mir auch zwischendurch einen kurzen Spaziergang gönnen zu können, ein kurzes Power-Napping oder einfach nur ganz in Ruhe eine Tasse Kaffee. Streicheleinheiten für meine Seele. Pure Selbstfürsorge. Unglaublich wertvoll.

Wie ich den Mut für gesunden Egoismus finde

Wenn ich merke, dass mein schlechtes Gewissen mich zwickt, weil ich doch eigentlich „etwas Produktives“ schaffen müsste, dann überwinde ich mich zu diesem „Egoismus“ und versuche ihn zu genießen. Anders geht es heutzutage nicht. Wenn wir nicht selbst auf uns achtgeben, wer soll es denn dann machen? 
Alle reden von Entschleunigung, Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Doch wer gönnt sie sich wirklich im stressigen Alltag als berufstätige Mutter, Hausfrau, Ehefrau und Multitasking-Talent? Wir haben doch alle gar keine Zeit dafür!

Oh doch! Wenn wir sie uns nehmen. Wenn wir einfach mal an uns denken! Nur zehn Minuten – für uns allein! Einfach mal egoistisch sein! Das erfordert anfangs sicher etwas Mut. Aber: Nachher ist unser Kopf frei für all die Aufgaben, die uns garantiert nicht davonlaufen. Und das schöne ist: Es funktioniert! Seit ich diesen gesunden Egoismus pflege, geht es nicht nur mir besser, sondern auch unserem Sohn. Wir können wieder mehr gemeinsam lachen, sind entspannter und haben viele kleine Glanzmomente im Alltag.

Also: Wann warst Du das letzte Mal egoistisch? Wann hast Du das letzte Mal an Dich gedacht? Probiere es gleich mal aus! Ich wünsche Dir ganz viel Spaß dabei!

Fragiles X-Syndrom – was ist das überhaupt?

Welche Einschränkungen ergeben sich für einen Menschen mit fragilem X-Syndrom – kurz FraX? Es ist ein Gendefekt auf dem X-Chromosom und die häufigste Ursache für erblich bedingte geistige Behinderung. Zu den Symptomen und Einschränkungen bei fragilem X Syndrom zählen – neben der Intelligenzminderung – Entwicklungsverzögerungen im Laufen, Sprechen, der Fein- und Grobmotorik, Muskelhypotonie und Bindegewebsschwäche. Außerdem treten häufig Verhaltensauffälligkeiten auf wie z.B. Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität, Stimmungsschwankungen, autistische Züge und eine sehr niedrige Frustrationstoleranz. Auch Handwedeln, Schlingen und Stopfen beim Essen und ein fehlendes Risikobewusstsein sind typisch für FraX-Kinder. Bei etwa 20 % der betroffenen Jungen kommt es außerdem zu epileptischen Anfällen.

Mehr zur Autorin Stefanie Vey:

Ich bin Steffi, 39, verheiratet und Mutter eines „besonderen“ Kindes. Ich lebe mit meiner Familie im schönen Fulda und arbeite als freie Texterin für Herzenstexte (www.stefanie-vey.de).
Als unser Sohn 16 Monate alt war, bekamen wir die Diagnose Fragiles X-Syndrom. Auch wenn wir bereits seit einiger Zeit vermutet hatten, dass unser Fips „anders“ ist, war die Diagnose ein tiefer Einschnitt. Aber mit unglaublich großer und liebevoller Unterstützung von allen Seiten sind wir sehr zuversichtlich in diese neue und unbekannte Welt gestartet.

Wir haben wunderbare Menschen an unserer Seite, die uns auf unserem Weg begleiten. Dennoch empfinde ich den Alltag immer wieder als eine große Herausforderung, die weiter wächst. Trotz aller Unterstützung und der Liebe zu unserem Kind gibt es viele Momente, in denen Fragen unbeantwortet bleiben, Probleme unlösbar scheinen und ich Angst habe, an allem zu zerbrechen.

Irgendwann habe ich festgestellt, dass mir das Schreiben hilft, besser zurechtzukommen. Daraus ist mein Blog www.liebenswert-anders.de entstanden. Ich finde es wunderbar, meine Gedanken, Erkenntnisse und auch Fragen mit anderen teilen zu dürfen. Einblicke zu geben. In die schönen Momente und auch in die schwierigen Lebensbereiche. Mit meinen Artikeln möchte ich anderen Eltern Mut machen und das Gefühl geben, nicht alleine zu sein.

Fotos: privat und Pixabay

Frau Mutter folgen

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2 Kommentare

  • Reply Samira 11. Juni 2019 at 11:12 am

    Ein wirklich interessanter Post. Ich selbst habe von der Krankheit zuvor noch nie etwas gehört.
    Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, welch ein Schlag ins Gesicht solch eine Diagnose beim eigenen Kind sein muss, deshalb wünsche ich Frau Vey und ihrer Familie viel Kraft und Durchhaltevermögen. Zudem finde ich die Haltung, als Mutter auch mal etwas für sich selbst tun zu wollen überhaupt nicht egoistisch. Es ist wichtig um einen Ausgleich zu schaffen. Keine Mutter sollte sich schlecht fühlen, weil sie mal ein paar Stunden für sich braucht oder einem Hobby nachgeht. Ich weiß, man macht sich selbst schnell Vorwürfe, weil man oft das Gefühl hat etwas falsch zu machen oder für das eigene Kind nicht genug zu sein, aber rational betrachtet sind solche Gefühle dann meist Quatsch und dem sollte man sich vielleicht öfter bewusst werden. Toller Beitrag!

  • Reply Stefanie Schott 21. Mai 2020 at 9:37 am

    Hallo
    Vielen Dank für den tollen Bericht. Ich habe 2 Söhne im Alter von 14 und 10 mit dieser Diagnose und ich kenne diese Gefühle und Gedanken 1 zu 1. Und als Mutter nimmt man sich leider wirklich zu wenig Auszeiten um Kraft zu tanken die man bräuchte.

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