Erfahrungen

Kinder zur Selbständigkeit erziehen. Warum ist das nur so schwer?

2. Juni 2014

Kinder Frau Mutter blog

„Ach menno, immer habt Ihr Angst um mich. Warum eigentlich?“, sagt mein Sohn Sebastian. Das sagt er oft. Wenn ich möchte, dass er vor der Dämmerung ins Haus kommt oder er doch lieber noch nicht alleine in unserem Viertel unterwegs sein sollte. Selbständige Kinder erziehen, das ist gar nicht so einfach wenn man eine moderne (Helikopter-) Mutter ist. Mein Sohn ist offen, neugierig und unternehmungslustig. Zum Glück! Warum fällt es uns manchmal so schwer, los zu lassen und zu vertrauen? Wenn ich an meine Kindheit zurück denke, habe ich ab der zweiten Klasse meinen Schulweg per Rad alleine bewältigt. Und war sehr stolz darauf. Erst vor ein paar Jahren gestand mir meine Mutter, dass sie mir jeden Morgen „undercover“ mit dem Auto hinterher gefahren ist. Nach über dreissig Jahren habe ich mich im Nachhinein wahrscheinlich gefühlt wie mein Sohn heute. „Menno, immer hattest Du Angst um mich. Warum eigentlich?“ Das konnte sie mir auch nicht beantworten. Kann man sich die Angst um die Kinder eigentlich auch abgewöhnen? Man muss!

Tja, aber schwer ist das Loslassen. Bei uns hat komischerweise die Sorge um Sebastians Rechenschwäche dazu geführt, mehr los zu lassen. Sebastians neue Lerntherapeutin fragte bei der ersten Stunde ohne Umschweife: „Wie viel darf er alleine machen, wie selbständig ist er?“

„Nun ja, in unserer Siedlung darf er sich frei bewegen.“ („Und ich rufe nur ungefähr alle 20 Minuten nach ihm“, dachte ich, sagte ich aber nicht.)

„Lassen Sie ihn mehr alleine tun, denn das hat mit Rechnen zu tun. Brötchen holen, alleine zur Schule gehen, das ist alles Alltagskompetenz.“

Komisch, wenn ich radfahre oder über die Strasse gehe, denke ich selten an Mathematik. Ok, beim Brötchenholen sollte man das Wechselgeld nachzählen. Aber über die Strasse gehen und Mathe üben?

Trotzdem wollten wir es versuchen. Der Junge ist fast acht Jahre alt. Da ist es vielleicht Zeit, den Radius zu erweitern.

Vor einer Woche ging er nun Brötchenholen, das erste Mal alleine. Im strömenden Regen. Wir mussten ihm gar keinen extra donut versprechen, so gefreut hat er sich. Hin- und Rückweg sind ungefähr zwanzig Minuten.

Nach 15 Minuten schaute ich auf die Strasse. Wo blieb er nur?

Nach zwanzig Minuten wurde ich unruhig. Hatte ihn jemand angesprochen?

Nach 22 Minuten war ich mir sicher: Er hatte sich Vorstadtdschungel verlaufen, bestimmt.

Nach 25 Minuten war er wieder da. Stolz wie Oskar. Er trat mit den durchweichten Brötchen durch die Tür und war ein veränderter Junge. In 25 Minuten war sein Selbstbewusstsein ein Vielfaches gewachsen. Er hatte nicht nur die Einkaufsliste korrekt „abgearbeitet“, sondern auch einen gratis doghnut von der Bäckersfrau bekommen, weil er so toll alleine Brötchen holt.

Ausserdem dem kranken Nachbarsmädchen gute Besserung gewünscht und noch einigen Nachbarn von seinem Abenteuer erzählt.

Ich frage mich, warum wir das nicht viel eher gemacht haben. Nicht nur, dass es meinem Sohn gut tut und es ihm Spass macht. Wir sind dadurch auch entlastet. Kinder wollen etwas beitragen, nützlich sein. Warum lassen wir das so oft nicht zu? Immer diese irrationale Angst, menno!

Die Lerntherapeutin hat uns unmissverständlich klar gemacht: Die Eltern müssen zu Hause mitarbeiten, wenn das mit dem Rechnen besser werden soll. Und zwar nicht mit Rechenübungen, sondern den Jungen einfach Dinge machen lassen. Selbständigkeit zulassen. Vertrauen.

Das ist gar nicht so einfach, was total absurd ist. Wenn ich meinen Sohn zu einem kompetenten Erwachsenen erziehen will, muss ich damit aufhören, alles zu übernehmen und die Dinge laufen lassen.

Warum ist das nur so schwer? Wie geht es Euch damit?

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13 Kommentare

  • Reply JesSi Ca 2. Juni 2014 at 8:19 am

    Wie Recht Du hast und auch wenn das Mottchen erst zweieinhalb ist (wow, eigentlich ist es schon zwei-dreiviertel Jahre alt – wo hat sich die Zeit versteckt?!), fällt es mir jetzt schon irre schwer und doch sehe ich, wie stolz und mutig und selbstständig sie schon sein kann,natürlich in ihrem Rahmen, wenn wir und damit meine ich vor allem mich, sie lassen….
    Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich momentan auf den Kindergarten ab Sommer, aber Themen wie Schule oder sie mal allein draußen zu lassen machen mir noch Angst und ich weiß, dass ich diese Angst in den Griff bekommen muss damit mein Kind das Fliegen lernt und ein selbstständiger kleiner Mensch wird. Nur das Wissen allein reicht nicht aus – ich muss es auch umsetzen lernen, denn niemand hat gesagt das man als perfekte Mutter geboren wird 😉

    Liebste Grüße
    die JesSi

  • Reply Frau Mutter 2. Juni 2014 at 8:29 am

    Da hast Du Recht, Jessi. Viel Spass erstmal beim Kindergarten!! LG Nina

  • Reply Paula "Mami COOL" 2. Juni 2014 at 10:01 am

    Ich schicke meinen Mann mit unseren Söhnen (beide zweieinhalb) öfter mal alleine in die große weite Welt. Sie dürfen dann ohne Hilfe auf das höchste Klettergerüst am Spielplatz klettern, im Einkaufszentrum bis zur nächsten Rolltreppe vorlaufen und im Supermarkt Gurkengläser bis zur Kasse tragen. Er ist bei so vielen Dingen entspannter als ich.
    Der Lieblingssatz meines Kleinen ist zur Zeit übrigens: „Ich kann des ohne Mama.“
    LG Paula „Mami COOL“

  • Reply Babyvater 2. Juni 2014 at 10:22 am

    Mir als Vater fällt es auch schwer. Vor meiner Frau zeige ich es aber nicht und spiele meine Sorgen runter. Im Endeffekt hat man nie die 100%ige Sicherheit. Freiheit ist aber das höchste Gut, das wir haben. Deshalb habe ich für mich beschlossen mit der Angst zu leben und manche Dinge laufen zu lassen. ich habe auch leicht reden. Meine Kleine ist gerade mal drei Jahre alt. In drei Jahren denke ich bestimmt anders.
    Vg, Babyvater

  • Reply Rosalie 2. Juni 2014 at 12:11 pm

    Wir hatten gestern Abend eine bösen Streit mit viel Geschrei, weil ich die Große wo hoch klettern lies und mein Mann flippte dabei völlig aus. Er warf mir vor, ich wolle, dass sie sich das Genick bricht… Und ich schrie zurück, ich wolle, dass sie ohne Angst aufwächst, sondern lernt, sich und Situationen gut einzuschätzen.
    So ist es eben. Bevor man Kinder hat kann man sich gar nicht vorstellen, wie viel Angst man vor den kleinsten alltäglichen Dingen haben kann.
    Zum Glück ist der Papa nie mit auf dem Spielplatz dabei – der würde glatt nen Herzinfarkt bekommen, wenn er seine Tochter so klettern sähe…

  • Reply Christian 2. Juni 2014 at 12:14 pm

    Ich denke, es ist wichtig, die Kinder zu unterstützen, wenn sie sich etwas zutrauen und dann auch immer situativ zu entscheiden. Unsere Tochter wollte zum Beispiel mit 3,5 Jahren alleine zum Bäcker gehen. Der war zwar nur 100m von uns entfernt, aber ich bin da dann auch auf der anderen Straßenseite hinter ihr hergeschlichen und habe mich wie in einem schlechten Agentenfilm hinter Bäumen versteckt. Insgesamt hat das aber sehr gut geklappt. Heute ist sie 10 Jahre alt, aber alleine mit dem Fahrrad würde ich sie nicht in die Schule fahren lassen (Großstadt, schlechte Fahrradwege auf der Strecke usw.). Dabei hätte ich kein gutes Gefühl.

    LG,
    Christian

  • Reply Frau Mutter 2. Juni 2014 at 12:52 pm

    Finde ich sehr interesant, was auch gerade die Väter hier schreiben. Bei uns ist es eher so, dass mein Mann weniger Angst hat. Schön, dass ich nicht alleine bin! Gruss Nina

  • Reply Textourette 2. Juni 2014 at 2:31 pm

    Das klingt nach einem großen Schritt in die richtige Richtung! Hört sich super an, mehr davon 🙂
    liebe Grüße,
    Isa

  • Reply Frau Mutter 2. Juni 2014 at 2:35 pm

    Hallo Isa,

    vielen Dank, man kann sich ja auch bessern;) Grüsse Nina

  • Reply Schlaflose Mutti 2. Juni 2014 at 10:49 pm

    Liebe Nina,

    mir fällt das Loslassen immer noch schwer und meine Tochter ist 11 Jahre.. Ich komme aus der Nummer irgendwie auch nicht so richtig raus.. Ich habe oft Angst um meine Maus.. Es passieren ja immer so viele schlimme Dinge! Trotzdem möchte ich sie nicht einsprerren und wir üben uns so langsam aber sich im Loslassen..

    Liebe Grüße
    Nicole

  • Reply Martine 4. Juni 2014 at 8:36 am

    Mein Sohn von 7 macht mir gerade jede Kaffee und gießt die Pflanzen draussen im Garten sehr fleissig. Findet er super und ich auch! Er übt seine Selbständigkeit ohne Gefahr! 🙂 Ich gebe also zu: ja, auch ich finde das losslassen sehr schwer. Hier mehr klassische Rollenverteilung: Mein Mann macht sich auch weniger Gedanken.. Nun ist Gefahreneinschätzung auch noch etwas sehr kulturbedingtes. Ein Klassenfahrt bevor 6 Jahren ist bei mir eine absolute no-go. Fahrrad fahren ohne Helm ist für mich absolut kein Problem. Aus welchem Land ich wohl käme? 😉

  • Reply klingelfee 17. Juni 2014 at 9:50 am

    Selbstständigkeit bei Kindern ist soo wichtig, aber es ist und bleibt (wahrscheinlich für immer) eine Herausforderung für Eltern. Meine Mutter macht sich jetzt noch Sorgen um mich (ich bin 40). Und ich liege wach bis Kindchen endlich nach Hause kommt (sie ist 16). Wenn sie 10 Minuten zu spät ist, schwanke ich zwischen Panik und Zorn. Aber ehrlich 10! Minuten! Ich komme regelmäßig zu spät.
    Und hat sie heute WIRKLICH schon etwas gegessen?
    Eltern sein hört einfach NIE auf. Aber es ist wunderschön, so zu lieben
    lg aus Wien, der angeblich sichersten Hauptstadt der Welt 😉

  • Reply Katharina 14. August 2014 at 10:18 am

    Großartiger Artikel! Ich glaube ja, dass es nicht genug „mal alleine machen lassen“ gibt – solange es nicht die Sicherheit des Kindes gefährdet! Die meisten Eltern sehen das aber scheinbar anders, und die (zwar gutgemeinte) Hilfe tut den Kleinen im Endeffekt überhaupt nicht gut für ihre Entwicklung.

    Hier meine Meinung dazu. Schaut doch mal rein, wenn ihr mögt 🙂 http://blog.familo.net/familie/mama-macht-das-schon-oder-lieber-nicht/

    Grüße aus Hamburg

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