Eltern Interviews

„Den Umgang mit Wut beherrsche ich bis heute nicht.“ Interview mit einer Mutter, die als Kind Misshandlung erlebt hat

5. Oktober 2015

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Meine Bloggerkollegin Frau Rella von 2kindchaos hat vor ein paar Wochen einen Beitrag veröffentlicht, der innerhalb kürzester Zeit viral wurde. Warum? Sie schrieb in sehr offener und auch schonungsloser Weise darüber, als Kind regelmässig geschlagen worden zu sein. Dieser Beitrag hat mich unglaublich berührt, der Mut der Autorin sehr beeindruckt. Obwohl es hier auf dem Blog immer sehr heiter zugeht, fand ich es wichtig, dieses Thema anzusprechen.

Ich freue mich wirklich sehr, dass Rella mit mir noch einmal darüber gesprochen hat. Darüber, wie sie diese Erfahrungen verarbeitet hat, ob sie Rachegedanken kennt und ob sie in ihrer eigenen Mutterschaft die Spirale der Gewalt durchbrechen konnte. Es ist ein sehr offenes und ehrliches Interview geworden. Es macht uns sensibel dafür, wie schwierig es ist, erlernte Erziehungsmuster der eigenen Eltern abzuwerfen. In Rellas Antworten steckt aber auch sehr viel Hoffnung. Hoffnung auf die eigene Resilienz, für die meine Interviewpartnerin ein Paradebeispiel ist.

Rella, Du wurdest in Deiner Kindheit geschlagen. Das war auch nicht der (verharmloste) Klaps auf den Po, sondern Gewalt und Misshandlung. Wann wurde Dir klar, was mit Dir passiert ist? Wie lange hast Du geglaubt, dass sei „normal“?

Bis ins Teenie-Alter hinein: ich dachte nicht, es sei gut oder gar wünschenswert. Aber in unserer Familie war es halt so, und ich ging davon aus, so ist es überall. Als ich älter wurde, war ich überrascht, wie harmonisch und gemütlich es zuweilen in anderen Haushalten, in anderen Familien war: bei uns herrschte im Grunde genommen immer eine geladene und unbehagliche Atmosphäre. Und erst, seit ich selbst Kinder habe, seit mir klar ist, wie klein Kinder eigentlich sind – erst seither wird mir langsam klar, was damals passierte. Und das tut weh, sehr weh.

Hattest Du Angst, die Fehler Deiner Mutter zu wiederholen?

Die meisten der in meinem Beitrag geschilderten Episoden hatte ich schlichtweg vergessen, so fühlte es sich für mich jedenfalls an; insofern hatte ich eigentlich keine Angst, auch nicht, als wir uns für ein Kind entschieden. Die erste Schwangerschaft brachte mir jedoch eine ganze Reihe fieser Alpträume, Flashbacks, Erinnerungen – mit denen ich völlig überfordert war. Und plötzlich war sie da, die Angst, mit der ich auch heute täglich lebe und die mich massiv unter Druck setzt.

Hast Du als Kind geglaubt, Du hättest die Schläge verdient?

Nicht selten genügte schon mein Blick, meine Art, zu schauen – eher eine Beschaffenheit meines Gesichts, vermute ich heute, etwas, das mich vielleicht dumm aussehen lässt oder hochmütig und unmittelbare Rage zur Folge hatte. Nein, ich habe nicht geglaubt, dass ich das verdient habe – mir wurde jedoch von klein auf klar gemacht, dass ich selbst daran schuld bin, immer. Dass ich mit meinem Verhalten schließlich keine andere Wahl lasse.

Wann hast Du gelernt, Deinen Gefühlen zu trauen bzw. ihnen Raum zu geben? Wann hast Du Dir erlaubt dann zu weinen, froh der laut zu sein, wann Du es für richtig hälst?

Daran arbeite ich. Jeden Tag. Was ich glaubte und was mir vermittelt wurde standen in einem derart krassen Gegensatz zueinander, dass ich auch heute in meiner Wahrnehmung tief verunsichert bin. Und ich habe Übung darin, meine eigenen Gefühle komplett zu übergehen und weiterzumachen.

Hast Du Dich jemals gewehrt, wann haben die Schläge aufgehört?

Es hörte auf, als ich eine körperliche Größe erreicht hatte, bei der man „davon ausgehen müsse, dass ich mich vielleicht wehren würde“ – Zitat Ende. Geschlagen wurde ich nicht mehr, es wurde durch Anschweigen ersetzt. Tagelang, wochenlang wurde nicht mit mir gesprochen wenn ich etwas getan (oder eben nicht getan) hatte, das den Ärger meiner Eltern erregt hatte. Oft genug wusste ich nicht einmal, was nun eigentlich der Auslöser gewesen war. Und so bizarr es für Außenstehende klingen mag: das Anschweigen tat nicht weniger weh als der Stock, wenn er auf meinem Rücken „tanzte“.

Hast Du das Verhältnis zu Deiner Mutter abgebrochen? Wenn nein, ist sie sich ihrer Schuld bewusst?

Wir pflegen eine Art des Kontakts, die im Grunde genommen nicht erstrebenswert ist und zumeist zwischen den Extremen schwankt; auch nach meinem Auszug war ich, so sehe ich es heute, viel zu abhängig von ihr, ihrer Meinung, ihrem Wohlwollen. Zu Zeiten habe ich versucht, gewisse Dinge zu thematisieren, doch das ist undenkbar: einerseits hat sie ihre eigene Erinnerungswelt, die sehr wenige Überschneidungen mit meiner aufweist, und auf der anderen Seite macht sie auch heute keinen Hehl daraus, dass der Zweck bisweilen die Mittel heilige.

Wie hast Du es geschafft, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen?

Daran arbeite ich bis heute. Es ist bedauerlich. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, aber auch nichts, was ich aus dem Stand heraus ändern könnte: ich habe den angemessenen Umgang mit Wut und Frustration nie gelernt und beherrsche ihn bis heute nicht. Ich muss ihn jetzt erlernen, jetzt, wo ich langsam aber sicher auf die 40 zugehe, und es ist harte Arbeit.

Es ist eine Tatsache, der die meisten mir zustimmen werden: Mutter zu sein, Eltern zu sein ist kein steter Quell von Lebensfreude und Frohsinn, Wut und Frustration gehören – leider! – dazu. Ich weiss nicht mehr, worum es damals ging; ich weiss noch, dass die äußeren Umstände gravierend waren, doch auch das tut hier nichts zur Sache, denn ich hätte es abfedern müssen; ich hätte angemessen reagieren und mich im Griff haben müssen, doch ich tat nichts davon. Ich ohrfeigte mein Kind.

Wie kam es dazu? Es passierte einfach. Es passierte, bevor ich denken und reagieren konnte, es war sozusagen ein Reflex, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte. In meiner Unfähigkeit und Hilflosigkeit kam er ganz von innen heraus, und ich war entsetzt. Es geschah, noch bevor ich eine Chance gehabt hätte bis zehn zu zählen, tief durchzuatmen oder mich mit einem Mantra zu erden. Allein diese Erkenntnis tat so unendlich weh; mich in diesem Licht zu sehen, zu erkennen, dass ich bin, wie ich nie sein wollte. Niemand kann mir mehr Vorwürfe machen als ich es tue. Zugleich die Angst: was, wenn es wieder passieren würde?

Ich nähere mich dem Problem schrittweise. Meine größte Aufgabe ist es, glaube ich, diesen Punkt zu erkennen, an dem ich die Kontrolle verliere, bevor es passiert. Aus dem Reflexhaften herauszukommen, nicht einfach zu reagieren, sondern mir alles ganz bewusst zu machen. Ich trainiere mich sozusagen in meiner Wahrnehmung, und doch war ich ratlos: was nun? Ich erkenne es, aber wie gehe ich damit um? Ich brauchte eine ganze Weile, um auf die simpelste aller Ideen zu kommen, so naheliegend und doch so neu und ungewohnt für mich: meine Wut muss raus, ich verbalisiere sie, manchmal auch (sinnlos) laut. „Dein Verhalten macht mich gerade unglaublich sauer!“ lässt die Kinder erstaunt, bisweilen erschreckt, aufschauen, doch dieser Moment, der Augenkontakt, geben mir, was zuvor gefehlt hatte: die Gelegenheit, bis zehn zu zählen, tief durchzuatmen oder mich mit einem Mantra zu erden – unerwünschtes Verhalten nicht blind mit Gewalt zu quittieren, wie ich es gelernt habe.

Ich arbeite weiter an mir. Ich bin ein aufmerksamer Beobachter, suche mir Inspiration, bewege Situationen und Dialoge im Herzen, um zumindest nächstes Mal souveräner zu reagieren, besonnener, durchdachter. Doch der Umstand, dass ich eine relativ reflektierte und nachdenkliche Mutter bin macht mich bedauerlicherweise nicht zu einer guten Mutter: Und für eine gute Mutter habe ich mich noch nie gehalten.

Wie kann man nach so einer Kindheit überhaupt weiterleben – und vor allem: lieben? Wie hast DU es geschafft, dass Dich diese Vergangenheit nicht täglich lähmt?

Ich liebe, aus vollem Herzen und ohne Einschränkungen. Meine Liebsten können im Prinzip alles von mir haben, mir ist kein Weg zu weit, kein Berg zu hoch – und das wissen sie auch. Was mir ungleich schwerer fällt ist der Gedanke, dass es Menschen gibt, die mich liebenswert finden, die mich in meiner Art akzeptieren, die mir nicht ständig wegen etwas böse sind und mich bestrafen wollen. Ich akzeptierte traurig, dass mein geliebtes Baby mich wohl hasst, als es ständig schrie, und auch heute, da die Kinder älter sind, treffen mich die alterstypischen Papa-Phasen mitten ins Herz. Es lähmt mich oft genug. Es wird etwas besser, seit ich mir professionelle Hilfe suchte.

Kennst Du Rachegedanken?

Nein. Ich hätte nichts davon, es würde die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.

Ich habe Dinge erkannt, ich habe Punkte, an denen ich ansetzen kann. Ich will nicht lamentieren, was war – ich will für die Zukunft das beste daraus machen, und auch das Schreiben zu diesen Themen hilft mir dabei. Groß war die Resonanz auf meinen ersten Artikel, schmerzhaft und verstörend jedoch die vielen Bekenntnisse einst Betroffener. „Das könnte mein Text sein“ las ich mehrfach, „so in etwa war es bei uns auch“ oder gar „ich kann es nicht lesen, es bringt mir zu viele Erinnerungen zurück“. So viele betroffene Emoticons und noch mehr weinende. Ich befasse mich derzeit viel mit der Kriegsenkel-Thematik und erkenne hier erstaunlich viele Parallelen zu meiner Geschichte. Ist es ein Problem einer ganzen Generation?

Rellas ursprünglichen Blogpost, auf den sich dieses Interview bezieht, könnt Ihr hier nachlesen.

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