Gastbeiträge

Stillen im Alltag: Zwischen Mythos und Realität

28. Juni 2016

Stillen wird gerne mal überhöht. Muttermilch macht kerngesunde, hyper-intelligente Kinder, und ist das Beste für die Mutter-Kind-Bindung. Natürlich, es ist gut fürs Kind und auch ganz einfach praktisch. Von einem Dogma halte ich aber gar nichts. Wenn Mütter stillen wollen (und das auch gerne in der Öffentlichkeit!!) super, wenn es nicht geht, ist das nicht der Weltuntergang. Lasst Euch das mal von der alten Frau Mutter gesagt sein. Ich habe ein Kind gestillt, eines (fast) nicht. Ein Kind hat Allergien bekommen, eins nicht (das nicht gestillte ist allergiefrei). Beide sind wunderschön, super toll und die besten Kinder der Welt. Das liegt aber natürlich an der Mutter. Wisster Bescheid. Spaß beiseite.

Ich habe meinen Sohn gerne gestillt und war totunglücklich, weil es mit meiner Tochter nicht geklappt hat. Weniger „Du musst aber“ hätte mir damals sehr gut getan. Heute erzählt meine Gastautorin Sandy, wie sie von einer anfänglichen Fremdheit mit dem Stillen zu einem ganz entspannten, aber pragmatischen Ansatz kam. Ihr Credo: Ihr müsst das Stillen nicht lieben. Wenn’s passt, gut so. Wenn nicht, nicht.

Stillen als Grenzerfahrung

Manche Mütter behaupten, es gäbe nichts Wundervolleres auf der Welt als Stillen. Ich frage mich, ob diese Frauen schon jemals richtig verknallt waren, des Nachts Sternschnuppen am Strand gezählt haben oder bei einem Rockkonzert in erster Reihe standen. Nach sechs Monaten harter Praxis und etlichen Gesprächen mit Freundinnen kann ich guten Gewissens behaupten: Grenzenloses Stillglück ist ein Mythos! Noch vor einem Jahr hatte ich es nicht für möglich gehalten in der Öffentlichkeit ohne zögern meine Brust auszupacken. Mittlerweile bin ich abgehärtet, ich stille quasi überall, zu jeder Zeit, an jedem Ort. War ich prüde oder naiv? Meine Oma hatte im Vorfeld kuriose Geschichten enthüllt: „Im Krieg pumpte ich Milch für zahlende Kunden ab, schließlich war Muttermilch das Nahrhafteste, was problemlos zu beschaffen war!“ Eine befremdliche Vorstellung.

Ich ahnte nicht, dass Abpumpen für mich bald so normal wie Pipi machen werden sollte. Bereits kurz nach Geburt verwandelte sich mein Busen in kiloschwere Pflastersteine und ich klingelte schmerzverzerrt nach der diensthabenden Stationsschwester. Sie zeigte mit routiniert, wie das Neugeborene anzulegen sei bzw. wie ich meine Brustwarze zur Milchproduktion anregen könne. Ich war irritiert, bis dato hatten nur penibel auserwählte Männer meinen Busen anfassen dürfen. Somit begann auch eine neue Ära, die unter Architekten als Bauhaus oder Neue Sachlichkeit bezeichnet wird: Die Funktion meines Busens wandelte sich vom Ästhetischen zum Funktionalen.

Ein riesiger Markt an Utensilien fürs Stillen

Früher sinnierte ich nach dem Sinn des Lebens, heute bin ich Milchkuh auf zwei Beinen. Da mein Baby im Zwei-Stunden-Rhythmus die Brust verlangt, sind Privatleben und Intimsphäre Fremdworte. Zwei Männer an meinem Busen sind definitiv einer zu viel, Senior lässt derzeit Junior freiwillig Vorrang und ich begreife endlich, warum es keine Still-BHs auf dem Dessous- Markt gibt, die sexy und funktional sind.Seit ich ein Baby stille, habe ich meinen Wortschatz um Folgendes erweitert: Brustwarzenkorrektor, -schutz und -former sowie Brusthütchen und Muttermilchauffangschalen. Als ich bald mit Säugling die absolute Notwendigkeit von Stilleinlagen erkannte, ließ ich mich in einer Apotheke beraten: „Bevorzugen Sie Stilleinlagen aus Baumwolle, Molton, Seide oder Wolle? Wir haben Zwei- oder Dreilagige. Möchten Sie waschbare oder einmal Stilleinlagen? Mit Klebestreifen oder ohne? Ich kann Ihnen ultradünn bis extradick bestellen.” Ich hatte den Markt an Stillutensilien weit unterschätzt.

Moderne Milchpumpen tragen stylische Namen wie Symphony, Freestyle oder Electric Plus.  Bei den Modellen diskutierte der Apotheker Vor- und Nachteile von Netz- oder Batteriebetrieb: „Hier haben wir auch die farblich passenden Muttermilchflaschen aus Polypropylen, natürlich frei von Bisphenol A. Werden Sie beid- oder einseitig abpumpen? Im täglichen oder gelegentlichen Gebrauch?“

Stillen ist okay, aber es gibt schönere Dinge im Leben mit Kind

Seit diesem Tag kaufe ich meine Stilleinlagen und Muttermilchgefrierbeutel im Drogeriemarkt, die haben nur zwei Sorten. Frauen, die keine Kinder haben oder bei denen es mit dem Stillen nicht klappt, sollten sich nicht einreden lassen, sie würden den Höhepunkt Ihres irdischen Daseins verpassen. Ein erstes Date oder Babys erstes Lächeln sind ebenso schöne, stressige und nicht alltägliche Erlebnisse. Stillen dagegen ist eine Grenzerfahrung.
Text: Sandy Bossier-Steuerwald

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5 Kommentare

  • Reply Gartenbuddelei 29. Juni 2016 at 7:50 am

    DANKE! Endlich mal eine, die die Wahrheit ausspricht. Ich konnte nicht stillen – mein Kind hat es überlebt und ist auch der tollste Junge der Welt ;-). Ich wurde übrigens auch nicht gestillt – und aus mir ist auch noch was geworden *lach*. Alles zu seiner Zeit und alles so, wie es gerade passt. Liebe Grüße Anja

  • Reply Kathleen 30. Juni 2016 at 7:17 am

    Kann ich nur bedingt zu stimmen. Ich selber habe drei Jahre mein Kind gestillt. Ich bin nicht diese tolle super Mutti, die alles richtig und toll macht (im Gegenteil), es hat sich einfach so ergeben. Stillen war für mich wirklich eine wundervolle Erfahrung. Vielleicht aber auch, weil es keinerlei Probleme gab. Vielleicht würde ich anders darüber denken, hätte es bei mir nicht so einfach geklappt.
    Ich bin immer noch pro Stillen, verurteile aber niemanden, der es aus welchem Grund auch immer, nicht macht.
    Genauso ernter man als Stillende (gerade wenn es über die typischen 6 Monate hinaus geht), gern böse Blicke und kritische Kommentare.

    Letzten Endes sollen einem die anderen egal sein, sondern das machen, was dem Baby und vor allem auch selbst, gut tut.

  • Reply No 30. Juli 2016 at 7:03 pm

    Ein sehr guter Artikel. Endlich mal schön offen am wirklichen Nerv gesprochen !

  • Reply Larisa 6. Dezember 2016 at 7:10 pm

    Ich stille auch seit 8 Wochen! Ich versuche meist bevor ich das Haus verlasse ihn nochmal zu stillen. Wie bei dir schläft er dann so 2-3h. Wenn er zwischendurch hunger hat, stille ich ihn einfach, habe mir aber angewöhnt immer eine Weste unter der Jacke zu tragen, so ist mein Rücken nicht nackt, wenn ich mein Shirt hoch ziehe und es ist alles besser verdeckt.

  • Reply Lisa 13. Dezember 2017 at 2:52 pm

    Sehr gut beschrieben! Jeder der es machen kann und will, sollte die Stillerfahrung nutzen. Dem Kind kommt es nur zu Gute!

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