Familie

„Kinderarmut ist auch emotionale Verarmung.“ Interview mit Bernd Siggelkow, Gründer der Arche

8. September 2014

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Ich hatte vor ein paar Wochen die grosse Ehre auf einer Veranstaltung der Bepanthen Kinderförderung Bernd Siggelkow zu interviewen, den Gründer des Kinderprojektes „Die Arche“. Es wurde ein sehr offenes Gespräch über seine Arbeit in sozialen Brennpukten, die Kinderarmut in Deutschland und darüber, wie er persönlich mit soviel Leid umgeht, ohne zu verzweifeln.

Wie kam es zur Gründung der Arche? Gab es ein Schlüsselerlebnis für Sie?

Ich war 1991 zu Besuch in Berlin-Hellersdorf, auf Einladung einer evangelischen Freikirche. Ich hatte den Bezirk dabei als einen Ort kennengelernt, an dem viele Kinder lebten, die wenig Perspektive hatten. Ich fragte mich: „Was wird wohl aus den Kids, wenn sich keiner um sie kümmert?“ Ich beobachtete sie auf der Strasse, sie waren allein und sich selbst überlassen. Ich begann auf sie zuzugehen und mit ihnen Volleyball zu spielen. Als ich einmal einen Jungen fragte, was er denn jetzt noch am Nachmittag machen will, sagte er: „Ich gehe hoch zu meiner Freundin zum poppen.“

Da dachte ich: „Wenn das Euer Lebensinhalt ist, dann fehlt etwas Wichtiges.“ Ich war nach dem Besuch in Hellersdorf eigentlich froh, wieder in meinem 200-Seelen-Dorf im Schwarzwald zu sein, wusste aber ab da auch, dass wir in Berlin gebraucht werden. Also sind wir 1992 nach Berlin gezogen und haben angefangen, uns um die Kinder auf der Strasse zu kümmern und ihnen zu zeigen, dass es andere Lebensinhalte gibt, als mit der Freundin zu schlafen. Vor allem, dass es Menschen gibt, die sich für ihr Leben interessieren.

Wie gehen diese Jugendlichen mit Sexualität um ?

Wir lernen viele Kinder in sozialen Brennpunkten kennen, die einfach ihrer Kindheit beraubt sind. Einerseits bekommen sie den Existenzkampf der Eltern mit, dann bekommen sie wenig Liebe, in den Familien geht es um alles, aber nicht um die Kinder. Zwölfjährige Mädchen stellen sich dann die Frage, warum sie noch keinen Sex gehabt haben. Die Jugendlichen fangen früh an, sexuell aktiv zu sein. Aber nicht aufgrund des eigenen Wunsches, sondern weil sie Angst haben, etwas zu verpassen. Sie wollen auch Liebe bekommen, die sie nie bekommen habe. Daher kommen dann auch die vielen Schwangerschaften zu Stande, aufgrund dieses Wunsches nach Liebe.

Wie hat sich die Kinderarmut von 1995 bis heute verändert?

In den 1990er Jahren hat keiner von Kinderarmut gesprochen, ich war ein Einzelkämpfer. Es gab keine Zahlen dazu und damit wurde das auch totgeschwiegen und ich wurde für meine Beschreibung der Kinderarmut auch kritisiert. 2001 erschien dann der erste Armuts- und Reichtumsbericht in Deutschland und es kam heraus, dass 1,2 Millionen Kinder in Deutschland in Armut leben. So wurde ich vom Exoten zum Experten.

Jetzt spricht man von 2,5 Millionen Kindern, die in Armut leben. Jetzt wird zum Glück mehr darüber gesprochen, es gibt ja auch das Bildungspaket der Bundesregierung. Wenn man von Kinderarmut spricht redet man immer von Finanzen, man muss aber auch ganz klar von der emotionalen Verarmung sprechen. Ein Kind, dass nicht geliebt wird, kann auch nicht lernen.

Gewaltstudie 2013

Die Arche hat 19 Standorte in ganz Deutschland. Wie finanzieren Sie sich?



Die Arche finanziert sich zu annähernd 100 Prozent aus Spenden. Wir brauchen jährlich 7,5 Millionen Euro und wie wir das jedes Jahr schaffen, weiss ich manchmal auch nicht. Natürlich haben wir prominente Unterstützer wie Günther Jauch und Mario Barth, aber wir müssen jedes Jahr aufs Neue kämpfen.

Wie sieht es aus mit dem sozialen Engagement in Deutschland? Denken die Leute:“Das soziale Netz wird’s schon richten“?



Wir haben mittlerweile eine höhere Sensibilität in Deutschland, man gibt auch mehr für soziale Zwecke im Inland aus, früher hat man nur ins Ausland gegeben. Aber man merkt zum Beispiel, wenn etwas im Ausland passiert, dann geht die Spendenbereitschaft für uns zurück. So merken wir bsw. bei Katastrophen wie Tsunamis etc. einen direkten Rückgang der Spenden. Das Problem ist auch, das es hier in Deutschland erst einmal teurer ist, bis man einen Effekt sieht. Nahrung und Behausung in Afrika sind natürlich günstiger.

Es ist wichtig, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren, denn wir sind ja per se kein kinderfreundliches Land. Die Politik sagt immer: Kinder sind unsere Zukunft, was ja furchtbar ist. Kinder sind unsere Gegenwart. Die Frage ist doch, wie kann ich einem hungrigen Kind heute helfen. Da kann ich nicht bis morgen warten.

Sie haben eben die emotionale Armut angesprochen. Wie können sie einem Kind konkret in der Arche helfen, das Gewalt, Armut und Vernachlässigung erfahren hat?



Die Arche arbeitet mit drei Säulen in der Arche: Beziehung, Nachhaltigkeit und Liebe. Und wenn ich nachhaltig arbeite, bleibe ich über Jahre mit einem Erzieher am Kind und kann so die Beziehung stärken.

Wie stärken sie denn die Selbstsicherheit der Jugendlichen? 



Ich versuche den Kindern zu vermitteln, dass ich und auch Gott an sie glauben. Das löst bei Kindern etwas aus. Das ändert auch die Lebenswelt von einem Kind.

Wie gehen Sie eigentlich damit um, soviel Leid täglich in Ihrem Beruf zu sehen? Wie grenzen Sie sich ab bzw. grenzen Sie sich überhaupt ab?



Ich kann nicht sagen, dass ich ein dickes Fell habe und das mir das nicht zu Herzen geht. Ich habe in 20 Jahren zwei Kinder beerdigt, da verzweifelt man. Das ist so wie in einer Familie. Ich habe ja nicht nur 6 Kinder, sondern 4000 und leide mit jedem mit. Ich glaube an Gott, das gibt mir Kraft und bei Gott kotze ich mich auch mal aus. Wenn man das tut, was wir tun, kann man das nicht als Job sehen. Das ist dann das Leben. Ich möchte mit den Kindern leiden, aber vielmehr mich auch mit ihnen freuen. Deswegen nehmen mich die Kinder ja auch ernst.

Die Bepanthen Kinderförderung wurde 2008 gegründet und unterstützt arme Kinder in Deutschland. Leitgedanke der Förderprogramme ist, die Selbstwahrnehmung von sozial schwachen Kindern zu stärken. Das Parcours-Projekt der Bepanthen-Kinderförderung, bei dem ich Herrn Siggelkow traf, richtete sich an Berliner Kinder des Hilfsprojektes “Die Arche.”

Fotos: Milos Djuric, Die Arche

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